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Abgesehen von der den Menschen vor allen anderen Tieren auszeichnenden Eigenschaft des Selbstbewußtseins, welcher wegen er ein vernünftiges Tier ist..., so wird der Hang: sich dieses Vermögens zum Vernünfteln zu bedienen, nach gerade methodisch, und zwar bloß durch Begriffe zu vernünfteln, d.i. zu philosophieren; darauf sich auch polemisch mit seiner Philosophie an anderen zu reiben, d.i. zu disputieren, und, weil das nicht leicht ohne Affekt geschieht, zu Gunsten seiner Philosophie zu zanken, zuletzt in Massen gegen einander (Schule und Schule als Heer gegen Heer) vereint offen Krieg zu führen; – dieser Hang, sage ich, oder vielmehr Drang, wird als eine von den wohltätigen und weisen Veranstaltungen der Natur angesehen werden müssen, wodurch sie das große Unglück, lebendigen Leibes zu verfaulen, von den Menschen abzuwenden sucht.
Immanuel Kant

in diesem sinne:
willkommen im online forum therapy meets philosophy des iam

eine elementare einführung
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Dieses Thema hat 11 Antworten
und wurde 1.810 mal aufgerufen
 revolution
clibo Offline



Beiträge: 3

04.02.2007 16:31
warum kämpft hier keiner? Antworten

In einer Gesellschaft, die Protest und politischen Widerstand mit Folter und Todesdrohung beantwortet, mag der bewaffnete Kampf einzig sinnvoll sein. Hier und heute bin ich dazu angehalten, mir die Entscheidung mehr als einmal zu überlegen.
Vor die Wahl gestellt, gegen Systeme und ihre Vertreter anzuschreiben und unbehelligt zu bleiben, oder die Repräsentanten des Unrechts zu liquidieren und für vogelfrei erklärt zu werden, fällt es nicht schwer, sich für die falsche Möglichkeit zu entscheiden.
Und so ist es zwar vielleicht nicht verzeihlich, aber verständlich, daß ich ... geschrieben habe.
Franz Reithmayr
(1986, gilt aber – leider – immer noch)

fuzzy68 Offline



Beiträge: 1

09.02.2007 14:11
#2 RE: warum kämpft hier keiner? Antworten

kämpft hier wirklich keine/R ... ums Über...leben; solange der Kampf ums tägliche Sein gegen sich selbst, seinen Schlendrian, der Unterdrückung der eigenen "Freiheit" mit den gelinden, "angepassten" Mitteln des ArbeitenGehens,... für die meisten ein wenig blutiges Abendfreizietprogramm im "gemütlichen" Zuhause sichert, scheint noch nicht die Notwendigkeit gegeben drastischer gegen die "wirk-lichen" Feinde vorzugehen; und um diese zu finden und dabei auch noch in der Einschätzung sicher zu gehen dürfte für die meisten bei uns noch immer der Energieaufwand zu hoch sein.

und das unbehelligte Anschreiben bleibt auch nur solange unbehelligt, solange es niemand zum Anlass nimmt handgreiflich zu werden,...

reithmayr Offline



Beiträge: 6

10.02.2007 12:53
#3 RE: warum kämpft hier keiner? Antworten

falsche antwort.
wahr ist vielmehr, daß "wir alle" weit mehr zu verlieren haben als unsere ketten. die heutigen ketten sind aus blitzendem chrom und mit plüsch gepolstert wie die handschellen in den pornoshops.

wahrer noch ist aber, daß es keine vision eines zu erhoffenden, zu erkämpfenden gewinns gibt.

die größten feinde der freiheit sind zufriedene sklaven

Sabine Klar Offline



Beiträge: 20

11.02.2007 15:49
#4 RE: warum kämpft hier keiner? Antworten

Es ist interessant, dass die Einsicht, auf bewaffneten Kampf um der eigenen Unbehelligtheit willen verzichtet zu haben, beantwortet wird mit der Beteuerung, dass man doch im Sinn dieser Unbehelligtheit sowieso sehr viel zu kämpfen habe. Themenverfehlung würde ich sagen - im einen Fall geht es um Kampf im Dienst einer Sache, in der "wir alle" viel zu verlieren haben. Im anderen Fall geht es um den Kampf um uns selbst, unsere eigenen privaten Freiräume. Dafür lohnt es sich wahrscheinlich nicht, in die Schlacht und die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen - so schlecht geht es uns ja gerade nicht. Aber zufrieden zu sein mit der "Lage", in der wir uns alle befinden - nur weil oder damit es uns dann persönlich besser geht? Da und dort ein bisschen zu zerren an den kleinen Fesselchen, um uns widerständig zu fühlen? Das hat etwas Lächerliches, das ich dennoch ständig betreibe - leider. Vor anderem schrecke ich zurück, denn ich bin feige. Und rede mich natürlich damit heraus, dass es eh keinen identifizierbaren Gegner gibt, dass ich sowieso keine Macht habe, dass es sich gar nicht auszahlt. Dann konzentriere ich mich auf meine kleine Welt, in der sich noch etwas gewinnen lässt - auch im Dienst verschiedener Menschen und Sachen, um die es dann geht. Und finde, dass sich dort zumindest eine Perspektive auf "geistige Freiheit" ergibt. Dafür kämpfe und darauf hoffe ich dann. Und bin solange recht froh bis ich wieder einmal über den Rand dieser Welt blicke - es braucht oft gar nicht viel Information. Dann weiß ich wieder, dass meine kleine widerständige Perspektive auf geistige Freiheit Teil einer Gefängniszelle mit Vorgarten ist, die mir diese Umgebung zukommen lässt, solange ich mich angemessen verhalte. Eigentlich müsste ich dankbar dafür sein, denn draußen verrecken die anderen. Ja und dann schalte ich wieder ab, weil mich die Unzufriedenheit in einen Zustand versetzt, der meinem kleinen Leben nicht gut bekommt. Und schaue weg - eben eine zufriedene, manchmal etwas schrullige oder widerspenstige, aber doch ganz brauchbare Haussklavin, die die Türen schließt, wenn es draußen kalt wird.

DMRosenauer Offline



Beiträge: 8

07.03.2007 22:01
#5 RE: warum kämpft hier keiner? Antworten

zwei Antwortmöglichkeiten:

Schon die alten Römer (hier brauchen wir kein Binnen-I, denn was die Frauen dachten ist nicht überliefert weil sie nicht schreiben konnten oder durften) wussten, dass "das Volk" mit Brot und Spielen ruhigzustellen ist. Denn sie wissen nicht was sie tun aber sie schweigen und verblöden. Super. Dann kamen die Barbaren (Bärte scheinen überzufällig oft an Menschen zu wachsen, die in gesättigten Systemen unzufrieden sind...) und machten den RömerInnen (die Frauen waren hier der Legende nach überzufällig häufig verschont aber nichtsdestotrotz betroffen) den Garaus. Was dann kam war allerdings nicht die Befreiung der Plebs und der Sklaven aus dem gesättigten Zirkus wie man meinen sollte, sondern die Unterwerfung unter ein anderes Joch. Man lernt: Die Diktatoren wechseln, die Diktierten bleiben in der Sch**** sitzen.

Der alte Kreisky meinte, dass das Lernen von Geschichte ein notwendiges Übel sei um den Lauf der Menschen besser verstehen zu können. Ich bin mir nicht sicher, inwieweit das nötig ist, weil ich davon ausgehe, dass die Gene oder andere Speichermedien den Menschen helfen, den Lauf der Geschichte, den Kreislauf, zu erkennen. Was führt zu Revolutionen? Un-zu-friedenheit. Wer nützt Revolutionen aus? Revolutionäre. Was sind Revolutionäre? Menschen, die erkannt (zu) haben (glauben), dass es Ungerechtigkeiten gibt und die in der Lage sind, ihre Intellektuellen und anderen Fähigkeiten dafür einzusetzen, dass andere mit ihren Händen das erkämpfen, was sie sich ersinnen. Bekannter- und bezeichnenderweise haben die bourgeoisen Generäle und die Anführer sämtlicher Revolutionen eines gemeinsam: Sie haben überlebt. Das kann man von den Tausenden, die für die gerechte Sache in den Krieg gezogen sind, nicht sagen. Egal ob es die SM-Attentäter in Israel oder im Irak sind: Krepiern tun die, für deren Rechte sie kämpfen. Übrig bleiben die, die andere dazu gebracht haben für ein hehres Ziel in den Tod zu gehen, das ihnen selbst einen Vorteil bringt. Die Überlebenden der Revolution sind die Diktatoren von morgen. Das hat die Geschichte schon so oft gezeigt, dass es "dem Volk" heute am A vorbei geht, wenn jemand nach den Waffen schreit. Die Heere werden zu selbstversorgenden Einheiten. Die Revolutionen bleiben Gottseidank (Jawoll har har har) in den Köpfen derer, die wahrscheinlich nicht unter denen wären, die morgen in die Schlacht gezogen würden.

soviel dazu

Dominik

Sabine Klar Offline



Beiträge: 20

12.03.2007 17:21
#6 RE: warum kämpft hier keiner? Antworten

Wenn ich z.B. in Ausbildungen bemerke, wie leicht sich Menschen Gegebenheiten fügen, gegen die sie sich doch wehren könnten ... dann will ich ihnen als Lehrtherapeutin die Unterdrückung wie die Fügsamkeit sichtbar und die entsprechenden Möglichkeiten des Widerstandes wahrnehmbar machen. Gleichzeitig bin ich mir bewusst, dass ich sie damit in einen Kampf schicken würde, an dem ich - obwohl ich aufgrund meiner Position mit viel besseren Ressourcen versehen bin - selbst gescheitert bin. Deshalb halte ich mich im letzten Moment zurück - und bin mir nicht sicher: Wäre es die Sache überhaupt Wert gewesen? Oder nehme ich mit diesem Rückzug teil an einem Unterdrückungsszenario im Kleinen?

DMRosenauer Offline



Beiträge: 8

12.03.2007 18:06
#7 RE: warum kämpft hier keiner? Antworten

wir systemikerInnen und kybernetikerInnen (natürlich zweiter und x-ter ordnung und überhaupt) sind doch immer ganz stolz, dass wir nicht die wahrheit kennen, sondern erkannt haben, dass in wahrheit auch unsere ansichten "nur" konstrukte sind. dass wir mit dem konstruktivismus wiederum eine wahrheit geschaffen haben, die sich selbst nicht in frage stellen lässt, lassen wir jetzt mal beiseite.

warum sollen wir also in ausbildungen oder therapiesituationen mit therapeutinnen konfrontiert werden, die wissen was wahr ist? :) warum bei sozialen problemen und nicht bei psychischen? wissen wir zwar, dass kapitalismus ganz des teufels ist und böseböseböse aber bei allen anderen wahrheiten können wir akzeptieren, dass sie eben subjektiv sind?

soviel dazu

Dominik

Sabine Klar Offline



Beiträge: 20

20.03.2007 13:46
#8 RE: warum kämpft hier keiner? Antworten

Es gibt wohl in diesem systemischen Kontext wenige Sätze, die mich so ärgern, wie dieser: "Das ist "nur" ein Konstrukt" (ersetzbar durch "nur" eine Geschichte). Wie können wir - vor dem Hintergrund der Erkenntnis, dass wir mittels unserer in Sprache gefassten Vorstellungen gemeinsam mit anderen "Welt" erschaffen - noch so (nach)lässig das Wort "nur" verwenden? Das was wir erleben, denken, sprechen wirkt - v.a. dann wenn wir uns in (zumindest partiell) definitionsmächtigen Positionen befinden (und die Position eines Therapeuten oder einer Ausbildungsleiterin ist eine solche). Deshalb halte ich in diesem Zusammenhang keinerlei Beliebigkeit oder Nachlässigkeit für angebracht. Und ich fände es wirklich gut, sich einmal ausführlicher mit dem Begriff der "Wahrheit" zu befassen, der im systemischen Umfeld wirklich sträflich banal verstanden und verwendet wird.

DMRosenauer Offline



Beiträge: 8

20.03.2007 14:24
#9 RE: warum kämpft hier keiner? Antworten


meine antwort war auf ihre darstellung vom inneren kampf bezogen, auf werte, die sie nicht vermitteln wollen etc. "nur" ist für mich nicht wertend sondern ausschließend gewesen. weil für mich der konstruktivismus im unterschied zum rationalismus oder anderen strömungen, die wirklichkeit und die realität auseinanderhält. indem die realität unsere konstrukte und unser für-wahr-nehmen beeinflusst und dieses system von konstrukten unsere wirk-lichkeit bildet. also das was unser verhalten verstehen usw be-wirkt. in diesem sinn sind konstrukte eben keine abbilder der realität sondern ergebnisse von prozessen, die potenziell unterschiedliches wahr-nehmen wahr-scheinlich machen. wenn konstrukte nicht "nur" konstrukte sind, was unterscheidet uns dann von der verhaltenstherapie und ihren schemata?
wirkung: die definitionsmacht haben wir menschen in den verschiedenen kontexten mE deswegen, weil wir davon ausgehen, dass uns eine umwelt im sinn einer realität und nicht einer wirklichkeit (gemeinsam erschaffen oder nicht) umgibt.
"banal" "nachlässig""beliebig" :) da müssen sie aber sehr verärgert gewesen sein...

soviel dazu

Dominik

Sabine Klar Offline



Beiträge: 20

13.06.2007 19:58
#10 RE: warum kämpft hier keiner? Antworten

Was mich ärgert:
Ein Mensch, der sich wegen einer Depression in Krankenstand befindet, muss bereit sein, Antidepressiva zu nehmen – sonst wird der Krankenstand nicht verlängert (Motto: entweder es ist ja gar nicht so schlimm oder es ist so schlimm, dann muss man Pillen schlucken). Eine andere Möglichkeit scheint es aus Sicht der Krankenkassen nicht zu geben. Ein Mensch, der sich aufgrund seines psychischen Zustands außerstande sieht, jeden Job möglichst flexibel anzunehmen bzw. Jobvermittlungskurse durchzustehen, gelangt in eine Rehabilitationsmaßnahme, die darin besteht, dass er 1 Woche lang ununterbrochen in seinen Fähigkeiten getestet und geprüft wird. Man gibt ihm Diktate und mathematische Aufgaben vor und setzt ihn unter Leistungsdruck, indem man ihm androht, im Fall des Scheiterns einen Rechtschreib- und Mathematikkurs absolvieren zu müssen. Schlimmstenfalls drohen dem armen Menschen, der sich zusätzlich zu seiner miesen existenziellen Lage und seinen diversen Zuständen jetzt auch noch mit den Schreckensbildern seiner schulischen Misserfolgserfahrungen befassen muss, sechs Wochen Prüfungs- und Trainingsmarathon (und das, obwohl er an einer Ausbildung Interesse hätte, die man ihm aber nicht genehmigt). Er darf nichts ablehnen – sonst gilt er als arbeitsunwillig und wird in die Sozialhilfe abgeschoben. Dasselbe geschieht, wenn er den Beurteilern, die quotenmäßig zunehmend unter Druck gesetzt werden, allzu unfähig erscheint. Es ist erstaunlich, welches soziale Geschick und welche sprachlichen Fähigkeiten ein solcher Mensch braucht, um sich seine Lebenskraft und Würde in diesem Umfeld zu erhalten. Leider kann er nicht gehen, denn er ist angewiesen auf das wenige Geld, das man ihm quasi gnadenhalber zahlt, wenn er sich allen Maßnahmen und Zumutungen unterwirft. Dazu gehört inzwischen bereits, alle Zelte abzubrechen und in eine andere Stadt zu ziehen.

Sabine Klar Offline



Beiträge: 20

28.06.2007 12:52
#11 RE: warum kämpft hier keiner? Antworten

Ich möchte Ihnen ein Buch empfehlen, in dem vieles, was mir persönlich in letzter Zeit zum Thema Standardisierung, Qualitätssicherung, Evaluierung (ECDS-Punkte!) usw. in der Bildungslandschaft "aufgestoßen" ist, auf differenzierte und gleichzeitig eingängige Weise ausgesprochen ist. Verena Kuttenreiter (verena.kuttenreiter@wiso.or.at) hat dazu eine Rezension verfasst, die ich dankenswerterweise hier einfügen darf:

Konrad Paul Liessmann
Theorie der Unbildung. Die Irrtümer der Wissensgesellschaft

Der Wiener Philosoph Konrad Paul Liessmann hat ein gut lesbares, durch seinen polemischen Stil und treffsichere Formulierungen unterhaltsames Buch über Bildung/Unbildung und Wissen in unserer Zeit geschrieben. Warum das auch für PsychotherapeutInnen interessant ist, wird spätestens bei seinen Ausführungen über die sogenannten ECTSPunkte (die früher oder später vermutlich auch hierzulande die Therapieausbildungen vereinheitlichen werden) deutlich.

Eine Ausgangsthese Liessmanns ist, dass nicht die Wissensgesellschaft, wie häufig postuliert, die Industriegesellschaft ablöst, sondern wir vielmehr in einer Zeit leben, in der Wissen industrialisiert wird, damit es – modularisiert, vereinheitlicht - in die Zone der ökonomischen Verwertbarkeit transferiert werden kann. Vor dieser Folie kritisiert Liessmann pointiert die Ideologie des lebenslangen Lernens als Instrument der Anpassung sowie das Konzept des Lernen-Lernens, das keiner Idee von Bildung mehr verhaftet ist, sondern durch das Leerstellen offen gehalten werden sollen für rasch wechselnde Anforderungen der Märkte, Moden und Maschinen.

Anhand der PISA-Studie macht Liessmann den „Ranglistenwahn" deutlich – Rankings sowie Evaluierungen, so Liessmann, fungieren dabei als wirksame Steuerungs- und Kontrollmechanismen, die verinnerlicht werden und den Phantasmen der Effizienz, der Verwertbarkeit, der Spitzenleistung und der Anpassung verpflichtet sind.

„Was die Bildungsreformer aller Richtungen eint, ist ihr Hass auf die traditionelle Idee von Bildung. Dass Menschen ein zweckfreies, zusammenhängendes, inhaltlich an den Traditionen der großen Kulturen ausgerichtetes Wissen aufweisen könnten, das sie nicht nur befähigt, einen Charakter zu bilden, sondern ihnen auch ein Moment von Freiheit gegenüber den Diktaten des Zeitgeists gewährt, ist ihnen offenbar ein Greuel. Gebildete nämlich wären alles andere als jene reibungslos funktionierenden flexiblen, mobilen und teamfähigen Klons, die manche gerne als Resultat ihrer Bildung sähen." Immanuel Kant, so ein griffiges Beispiel, der 10 Jahre an seiner „Kritik der reinen Vernunft" schreibt und Königsberg nie verlassen hat, wäre im Universitätsbetrieb unserer Zeit nicht mehr möglich.

Über den Begriff von Charakter ließe sich natürlich – gerade unter PsychotherapeutInnen – diskutieren. Anzurechnen ist Liessmann jedenfalls, dass sich seine Angriffe sowohl gegen Rechts als auch gegen Links richten und er es wagt, auch unpopuläre Positionen zu vertreten. Und nicht zuletzt bei der Polemik gegen Power-Point-Präsentationen („Überhaupt lässt sich bei derartigen Gelegenheiten ein generelles Missverhältnis zwischen dem technischen und medialen Aufwand und dem geistigen Gehalt des Gebotenen konstatieren") und dem Hinweis auf Scheinrealitäten, in denen schneller Nutzen in Hochglanzformat versprochen wird („Potemkinsche Dörfer, allesamt!") drängt sich so mancher Vergleich mit der Psychotherapieszene auf.

Verena Kuttenreiter

SK Offline



Beiträge: 3

29.06.2009 08:44
#12 RE: warum kämpft hier keiner? Antworten

Anbei ein Interview mit dem Hochschulprofessor Marius Reiser, der sich weigerte, die Bologna-Regelungen zu übernehmen und deshalb auch sein Amt zurückgelegt hat (Henry Vorpagel hat dieses Interview entdeckt und an mich geschickt). Es geht wieder mal um diverse gesellschaftlich geförderte Verdummungsprozesse. SK

DERSTANDARD.AT-INTERVIEW
"Dafür kann kein gebildeter Mensch sein"
17. Juni 2009, 13:40
·
Marius Reiser: "Gerade Intellektuelle hätten weiterdenken müssen."
·
Der Theologe Marius Reiser erklärt, warum er wegen des Bolognasystems seine Professur an
der Uni Mainz zurückgelegt hat
Vor zehn Jahren haben Bildungsminister beschlossen, die Hochschulen in Europa
vergleichbar zu machen und das Bologna-System einzuführen. Marius Reiser, einst
Theologie-Professor an der Universität Mainz, hat kürzlich seine Professur aus Protest
gegen Bologna zurückgelegt. Im derStandard.at-Interview kritisert er seine KollegInnen
an den Unis, beklagt den "Verlust der akademischen Freiheit" sowie die
Selbstständigkeit, die seit Bologna unter den Studierenden verloren gegangen sei. Die
Fragen stellte Katrin Burgstaller.
***
derStandard.at: Sie haben Ihre Professur zurückgelegt. Ist das definitiv oder haben Sie
ein Rückkehrrecht?
Reiser: Ich bin aus dem Beamtenverhältnis entlassen. Der Lehrstuhl wird neu
ausgeschrieben.
derStandard.at: War es leicht, diese Entscheidung zu treffen?
Reiser: Ich habe von Anfang an erklärt, dass ich Bologna nicht mittragen werde, aber
doch drei Jahre mit der Entscheidung gerungen, meine Professur niederzulegen. Seit
dem laufenden Sommersemester müsste ich mich auch an unserer Fakultät in einem
Bologna-Studiengang beteiligen. Da wollte ich nicht mitmachen und deshalb bin ich jetzt
gegangen.
derStandard.at: Bologna ist ja schon länger im Gespräch. 1999 haben die EUBildungsminister
beschlossen, das Bologna-System einzuführen. Waren die radikalen
Veränderungen für die Unis damals nicht absehbar?
Reiser: Eigentlich nicht. Bei uns in Deutschland hätte alles beim Alten bleiben können.
Von Bachelor und Master war in der Bologna-Erklärung, die übrigens keinerlei
völkerrechtliche Verbindlichkeit hat, keine Rede. Auch von der Modularisierung ist darin
keine Rede. Man sieht ja auch, dass es in der Umsetzung europaweit Unterschiede gibt.
Im übrigen habe ich mich um Universitätspolitik nie gekümmert. Ich habe mich überhaupt
um Politik nicht gekümmert.
derStandard.at: Gehört es nicht zur Aufgabe eines Hochschullehrers, sich mit
Universitätspolitik zu beschäftigen?
Reiser: Inzwischen habe ich begriffen, dass das absolut notwendig wäre. Die
europäischen Großindustriellen haben schon 1995 die Linien für Bologna vorgegeben.
Sie haben Modularisierung, ständige Kontrolle und Quantifizierung der Leistungen
gefordert. Auch stärkere Kooperationen zwischen der Industrie und den Universitäten
wurden gefordert. Über die Hochschulräte haben Vertreter der Industrie inzwischen
einen starken Einfluss auf die Gestaltung der Universitäten.
derStandard.at: Wären die Hochschullehrer wachsamer gewesen, als Bologna
eingeführt wurde, hätte man dann etwas verändern können?
Reiser: Daran besteht kein Zweifel. Das ganze System hätte nicht eingeführt werden
können, wenn sich die Hochschullehrer gewehrt hätten. Meine Kollegen haben aber von
Anfang an gesagt, das ist Zwang von oben, man kann nichts dagegen machen und
lokaler Widerstand ist zwecklos. Tatsächlich wurde mit diktatorischen Maßnahmen in die
inneren Angelegenheiten der Universitäten eingegriffen. Man hat uns die akademische
Freiheit genommen, die uns sogar grundgesetzlich garantiert ist.
derStandard.at: Sie sind nicht der einzige Hochschullehrer, der am Bolognasystem
grobe Mängel feststellt. Trotzdem melden sich dazu wenige zu Wort. Ist das nicht ein
Armutszeugnis?
Reiser: Doch, das ist ein Armutszeugnis, das kann man wohl kaum anders nennen. Und
es ist nicht nur ein Armutszeugnis, sondern auch ein Zeichen von
Verantwortungslosigkeit. Die Hochschullehrer verzichten ja nicht nur auf ihre eigene
Freiheit, sondern auch auf die Freiheit der Studierenden. Sie haben den Studierenden
ein Joch auferlegt, indem sie das System akzeptiert haben. Gerade Intellektuelle hätten
weiterdenken müssen. Ich kann es verstehen, dass sie nicht einen solchen Schritt wie
ich gewählt haben. Aber sie hätten die normalen Mittel des Widerstandes wählen
müssen.
derStandard.at: Die Professoren sollten die Jungen doch eigentlich zum kritischen
Denken anregen und beispielhaft agieren.
Reiser: Sie denken ja kritisch. Reden können die Professoren schön. Schon in der Bibel
heißt es: Haltet euch an das was sie sagen, aber nehmt euch nicht zum Vorbild, was sie
tun (Matthäus 23,3).
derStandard.at: Ist es jetzt zu spät für den Protest?
Reiser: Zu spät ist gar nichts. Ab 2010 sollen die Studiengänge wieder neu akkreditiert
werden. Da müsste man sich weigern. Die Akkreditierungsfirmen sind nicht demokratisch
legitimiert. Außeruniversitäre Privatvereine machen uns in Deutschland Vorschriften über
die inneren Strukturen des Studiums und verlangen pro Akkreditierung eines
Studiengangs 10.000- 15.000 Euro. So etwas Absurdes hat es in 800 Jahren nicht
gegeben. Dazu könnten wir jederzeit nein sagen.
derStandard.at: Was sind die größten Unterschiede zwischen AbsolventInnen vor und
AbsolventInnen nach Bologna?
Reiser: Der entscheidende Unterschied ist die Selbstständigkeit. Im früheren System
war es das Ziel, die StudentInnen zum selbstständigen Arbeiten und Denken zu
erziehen. Die Voraussetzung dafür ist eine gewisse akademische Freiheit. Selbstständig
werden kann man ja nur, indem man Selbstständigkeit ausübt. Genau das soll gemäß
Bologna nicht vermittelt werden. Es geht weiter wie in der Schule, man soll Stoff pauken.
Die Studenten können über ihre Zeit nicht mehr selbst verfügen, da in den meisten
Lehrveranstaltungen Anwesenheitspflicht besteht. Und: Seminararbeiten werden jetzt in
der Regel in 14 Tagen abgehandelt, weil sie noch innerhalb des Semesters abgegeben
werden müssen. Eine ernsthafte Heranführung an die Wissenschaft ist so nicht möglich.
derStandard.at: Wer könnte sich dafür interessieren, weniger selbstständige
AbsolventInnen hervorzubringen?
Reiser: Hauptsächlich die Industrie scheint sich für gut ausgebildete, anpassungsfähige
Leute und nicht selbstständig wirkende Persönlichkeiten zu interessieren.
derStandard.at: Wie kann es sein, dass sich Hochschullehrer, die sich im alten System
etabliert haben, so einfach in das Bologna-System transferieren lassen?
Reiser: Wenn der Senat und der Präsident das Bolognasystem akzeptiert haben, hat der
einzelne Hochschullehrer nicht mehr die Freiheit, dagegen zu sein. Deshalb blieb auch
mir nur die Möglichkeit des Ausscheidens. Was einem Hochschullehrer passiert, der
einfach nicht mitmacht, das wissen wir noch nicht.
derStandard.at: Ein Argument für Bologna ist die Vergleichbarkeit der europäischen
Hochschulen ...
Reiser: Die ist illusionär. Das ECTS-Punktesystem bewertet die reine Arbeitszeit. Das ist
eine Abstraktion, die in sich sinnlos ist. Die ECTS-Punkte werden ausserdem ganz
willkürlich verteilt. Vergleichbarkeit und Mobilität haben sich dadurch verschlechtert.
derStandard.at: Die Vergleichbarkeit will man auch in den Schulen erzielen. In
Österreich werden Bildungstandards und die Zentralmatura eingeführt.
Reiser: Das ist eine üble Gleichmacherei auf niedrigem Niveau. Im Jahr 1927 hat J. K.
Chesterton zur Hundertjahrfeier des University College London einen Vortrag über die
kommende große Gefahr für die Kultur gehalten. Diese Gefahr sah er in der
Standardisierung auf niedrigem Niveau. Genau das strebt man mit dem neuen System
bewusst an. An den Schulen und Universitäten wird alles auf ein Mittelmaß
hinuntergedrückt. Unterschiede in der Begabung werden kaum berücksichtigt und
Begabtenförderung spielt keine große Rolle. Dafür kann kein gebildeter Mensch sein.
(Katrin Burgstaller, derStandard.at, 17. Juni 2009)
Zur Person
Marius Reiser, Jg. 1954, studierte in Tübingen Katholische Theologie, Sinologie und Klassische
Philologie. Zuletzt war er Professor an der Johannes-Gutenberg Universität in Mainz

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