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Abgesehen von der den Menschen vor allen anderen Tieren auszeichnenden Eigenschaft des Selbstbewußtseins, welcher wegen er ein vernünftiges Tier ist..., so wird der Hang: sich dieses Vermögens zum Vernünfteln zu bedienen, nach gerade methodisch, und zwar bloß durch Begriffe zu vernünfteln, d.i. zu philosophieren; darauf sich auch polemisch mit seiner Philosophie an anderen zu reiben, d.i. zu disputieren, und, weil das nicht leicht ohne Affekt geschieht, zu Gunsten seiner Philosophie zu zanken, zuletzt in Massen gegen einander (Schule und Schule als Heer gegen Heer) vereint offen Krieg zu führen; – dieser Hang, sage ich, oder vielmehr Drang, wird als eine von den wohltätigen und weisen Veranstaltungen der Natur angesehen werden müssen, wodurch sie das große Unglück, lebendigen Leibes zu verfaulen, von den Menschen abzuwenden sucht.
Immanuel Kant

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 systemische psychotherapie
Sabine Klar Offline



Beiträge: 20

20.02.2007 16:17
Blinde Flecke in der systemischen Therapie Antworten

Lieber Tom!

Deine Auseinandersetzung mit meinen Fragen hat mich zugegebener Weise beeindruckt. Ich fühlte mich in Bezug auf den blinden Fleck meiner eigenen „moralischen Codierungen“ ertappt und verfiel eine Zeitlang in nachdenkliches, lernbereites Schweigen. Nachdem ich mir deine Antworten noch ein paar Mal schriftlich durchlesen konnte, komme ich nun aber doch nicht umhin, das eine oder andere dazu anzumerken.

Zum „blinden Fleck“ – du meintest, es brauche nur eine Veränderung der Beobachterperspektive, um ihn beobachten zu können. Demgemäß wären „blinde Flecke“ kein Drama. (S. 2) Das stimmt – gilt aber nur dann, wenn man darauf Wert legt, sie zu kennen, sich ihrer also bewusst werden bzw. sich im Hinblick auf seine Beobachterperspektiven beweglich halten will. Meiner Erfahrung nach scheint das schwierig zu sein, wenn man sich mit einer eingenommenen (z.B. methodischen oder ethischen) Positionierung identifiziert und persönliche Vorteile damit verknüpft. Es gibt Reaktionen auf meine Fragen, die mich methodisch überzeugen – und gleichzeitig misstrauisch machen, weil sie so selbstverständlich wirken und den Eindruck erwecken, es sei kein Problem, sich im Kontext von Interessenslagen, die auf beiden Seiten wirken, ganz auf das zu konzentrieren, was den KlientInnen jeweils gut tut. Ich habe bei einigen Rückmeldungen den Eindruck, dass es meinen KollegInnen leicht erscheint, sich gegenüber den diversen Beeinflussungen frei zu halten. Mir persönlich fällt es nicht so leicht und deshalb halte ich das Bemühen um eine halbwegs freie und bewegliche Wahrnehmungs- und Urteilsfähigkeit für eine nie endende Aufgabe.

Die „Milde“ (S. 2 unten), die mein endgültiger Text gegenüber vorangehenden Varianten aufweist, könnte auch als Ergebnis interner Abgleichungs- und Nivellierungsprozesse i.R. Kooperation mit meinen KollegInnen verstanden werden. Ist „Milde“ in diesem Zusammenhang eigentlich positiv zu bewerten? Und auf der Basis welcher Kriterien stellst du meinen hie und da durchbrechenden Kampfgeist als anachronistische „Emphase“ in Frage? Sollte ich als Vortragende meinen Zuhörern so begegnen, als wären sie Klienten in einer systemischen Psychotherapie? Ich persönlich bin übrigens weniger über die „sozialen Entwicklungen“ (S. 3 oben) wütend als darüber, wie wir SystemikerInnen uns auf subtile Weise daran beteiligen, ohne es wahrhaben zu wollen.

Was du über die Vermarktung der Lebenswelten in der neoliberalistischen Postmoderne und über den drohenden individuellen Konkurs als Markteilnehmer schreibst (S. 5), spricht mir natürlich aus der Seele. Ich denke allerdings, dass der individuelle Konkurs der Marktteilnehmer auch konkrete Unfreiheit bewirkt, wenn nicht etwas anderes für sie wichtiger werden kann, als ihr Wert auf dem jeweiligen Markt. Damit werbe ich noch nicht für den Ersatz durch bestimmte andere Werte – das wäre dann vielleicht wirklich eine „moralische Codierung“ des Problems. Ich werbe für ein Bewusstmachen der impliziten Wertsetzungen und dafür, sich seinen Geist ihnen gegenüber nach Möglichkeit frei zu halten und frei zu machen.

Zu Luhmann: Wenn im Verständnis der funktionalen Differenzierung das Funktionssystem der Psychotherapie die Aufgabe übernimmt, die ganze Person im Blick zu behalten (S.8) – ist das dann als eine Form des Widerstands zu verstehen oder als „Reservat“, das im Dienst der Funktionalität anderer Bereiche mit ihrer Zustimmung aufrechterhalten wird? Ich denke, dass die Neigung zur Funktionalisierung auch in diesen Bereich Eingang gefunden hat – und behaupte, dass v.a. PsychotherapeutInnen, die sich mit einer bestimmten Methode, Strategie oder mit bestimmten Umgangsformen besonders identifizieren, auch nicht mehr die ganze Person sehen können, sondern nur das, was sie für das Handeln im Rahmen ihrer jeweiligen Präferenz bzw. Spezialisierung brauchen können. Die Delegation des Menschlichen an einen Sonderraum, der selbst funktionaler Teil einer Anpassungsmaschinerie an Funktionales sein soll, birgt aus meiner Sicht eine immanente Verstrickungs- und Manipulationsgefahr. Hilfen die solche funktional verstandenen Systeme anbieten, werden dann wohl Integrationshilfen sein – also letztlich Unterstützungsformen, die den Funktionssystemen nützen. Mein Problem besteht hier u.a. darin, dass die Theorie der funktionalen Differenzierung die Idee produzieren kann, die gesellschaftlichen Vorgänge könnten nicht mehr anders gesehen werden als es diese Theorie beschreibt. Dann gilt alles, was in diesem Zusammenhang auftaucht, als Ergebnis funktionaler Differenzierung und selbst ein Bereich, der anderen Prämissen folgt, wie die Psychotherapie, bloß als weitere funktionale Spezialisierung. Dazu ein Beispiel aus deinem Text: „Als systemische Psychotherapeuten müssen wir uns also Gedanken machen, welche Werte unsere gesellschaftliche Funktion besonders sinnhaft zum Ausdruck bringen.“ (S. 11) Beißt sich da nicht die Katze in den Schwanz? Wieso müssen wir unsere Werte an unserer gesellschaftlichen Funktion orientieren? Ich habe den Eindruck, dass in diesem Zusammenhang manche globalen Theorien verschlingenden Charakter bekommen können. Man versteht bestimmte Zusammenhänge auf eine bestimmte Weise und trägt damit dazu bei, dass sie sich weiterhin auf diese Weise zeigen und verhalten können.

Mit dem Anspruch des „Ambivalenzmanagements“ kann ich wenig anfangen, wenn es bei Ambivalenz bloß um ein „unentscheidbares Oszillieren zwischen zwei gleichermaßen plausiblen Entscheidungsmöglichkeiten“ (S. 6) gehen soll. Selbst wenn „in der Beobachtung zwei oder mehr gegensätzliche, sich widersprechende Blickpunkte plausibel erscheinen“ (s.o.), kann ich mich hier gemäß eigener (auch ethischer) Präferenzen zumindest für eine gewisse Zeit begründet und auf vernünftige Weise positionieren und daraus Handlungs- und Gestaltungsfähigkeit in meinem jeweiligen sozialen Kontext gewinnen. Dazu muss ich in meiner Auseinandersetzung und Begründung aber wahrscheinlich etwas langsamer werden als es das Wechselspiel diverser von der Umgebung angeregter Ambivalenzbewegungen von mir will. Ich könnte mich mit diversen Themen und Fragen beispielsweise auf dialektische Weise auseinandersetzen, die doch eine etwas gründlichere Beschäftigung mit der jeweils gewählten Position verlangt, bevor sie zu einer ebenso gründlichen Beschäftigung mit der anderen Position gelangt.

Außerdem denke ich, dass der von mir vertretene Widerstandsgedanke zu sehr i.S. einer 68er-Tradition als „Rebellion“ gegen die „Gesellschaft“ verstanden wurde. Es geht mir sicher nicht darum, „stellvertretend für meine Klienten einen Kampf aufzunehmen und sie damit meines Reflexionsangebotes zu berauben“ (S. 12). Im Gegenteil – ich möchte durch diese Auseinandersetzung dazu beitragen, dass sich dieses Reflexionsangebot von impliziten Beeinflussungen befreit bzw. sich diese zumindest von Mal zu Mal bewusst macht. „Widerstand“ kann im Zusammenhang mit dieser Frage gar keinen deutlich erkennbaren Adressaten haben, weil es jeweils immer etwas anderes ist, das KlientInnen und PsychotherapeutInnen in ihrer Freiheit einengt, zu urteilen und zu handeln (und in diesem Sinn Wirklichkeit zu konstruieren). Es geht um das „gemeinhin Geglaubte“, das „selbstverständlich Vorausgesetzte“. In diesem Verständnis ist jeder von uns – PsychotherapeutInnen, KlientInnen, Überweiser usw. – gleichzeitig Täter und Opfer. Wir erleiden die Unterdrückung und Einengung, sind ein Teil von ihr und ziehen Nutzen daraus. Das ist es ja – wir sind alle Agenten, Verwalter und Dulder der Machtverhältnisse. Und natürlich ist das „befreite“ genauso wie das „unterdrückte“ Individuum eine soziale Konstruktion (S. 4 unten) – doch die Idee eines Menschen, der sich befreien kann, ermöglicht als hoffnungsvolle soziale Konstruktion ein spezifisch anderes darauf bezogenes Denken und Handeln.

Zu deinem Hauptkritikpunkt: „das Problem gesellschaftlicher Normierungen wird vorschnell als moralisches Problem codiert“. Ich unterliege diesbezüglich sicher dem einen oder anderen „blinden Fleck“ und ertappe mich oft dabei, dass ich mein Interesse mit diversen „Richtigkeitsvorstellungen“ beschäftige, wenn es auch um ganz anderes gehen könnte. Dennoch halte ich bei längerem Nachdenken deine Beobachtung für eine Fehldiagnose. Ich codiere die genannten Probleme weniger im moralischen als im berufsethischen Sinn und denke, dass es sich dabei um einen feinen, aber doch wesentlichen Unterschied handelt. Es geht mir darum, sich der Macht der eigenen Positionierungen und Interessenslagen in diesem Kontext bewusst zu werden. Meine Intention ist es, die eigene Beteiligung an den diversen Machtspielen zu bemerken und sich damit als SystemikerInnen ernst zu nehmen, die wissen, dass sie Wirklichkeit gemeinsam mit anderen erschaffen. Ich fordere mich und meine KollegInnen dazu auf, ernst zu nehmen, was wir gemäß unserem eigenen konzeptionellen Verständnis nach sind – mitgestaltendes Gegenüber für menschliche Lebewesen, die ihre Welten gestalten. In dem Anliegen, diese Gestaltungsmöglichkeit als potentiell befreiende Option wirklich zu erfassen, kann ich noch keine moralische Codierung i.S. einer Identifikation mit bestimmten vorgegebenen Werten und Normen erkennen – eher eine Anregung zur Infragestellung und Überprüfung eigener impliziter Wertsetzungen und ethischer Positionen. Ich fordere nicht dazu auf, eine bestimmte Moral zu teilen, sondern kritisiere die von mir wahrgenommene implizite Moral vieler SystemikerInnen. Übrigens denke ich, dass der von dir bevorzugte Bezug auf das soziale Konstrukt der „ganzen Person“ im Kontext der funktionalen Differenzierung die Identifikation mit einem ganz bestimmten Wert voraussetzt. Deine positive Bewertung dieses sozialen Konstrukts halte ich - so sehr ich dir persönlich auch zustimmen möchte - demgemäß für „moralischer“ als mein Plädoyer für ein Bewusstmachen diverser impliziter Wertsetzungen.

Mit dem Abschlusszitat von F. Foerster kann ich leider nur wenig anfangen – ich halte gerade das, was er damit zu präferieren scheint, für potentiell gefährlich: Sprache und Handeln „auf einem unterschwelligen Fluss der Ethik schwimmen zu lassen“ (S. 12). Ich schaue den eigenen und fremden Werte-Präferenzen lieber ins Gesicht und nehme sie in den Mund, als dass ich mich von ihnen unterschwellig treiben lasse.

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