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Abgesehen von der den Menschen vor allen anderen Tieren auszeichnenden Eigenschaft des Selbstbewußtseins, welcher wegen er ein vernünftiges Tier ist..., so wird der Hang: sich dieses Vermögens zum Vernünfteln zu bedienen, nach gerade methodisch, und zwar bloß durch Begriffe zu vernünfteln, d.i. zu philosophieren; darauf sich auch polemisch mit seiner Philosophie an anderen zu reiben, d.i. zu disputieren, und, weil das nicht leicht ohne Affekt geschieht, zu Gunsten seiner Philosophie zu zanken, zuletzt in Massen gegen einander (Schule und Schule als Heer gegen Heer) vereint offen Krieg zu führen; – dieser Hang, sage ich, oder vielmehr Drang, wird als eine von den wohltätigen und weisen Veranstaltungen der Natur angesehen werden müssen, wodurch sie das große Unglück, lebendigen Leibes zu verfaulen, von den Menschen abzuwenden sucht.
Immanuel Kant

in diesem sinne:
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Dieses Thema hat 18 Antworten
und wurde 2.183 mal aufgerufen
 systemische psychotherapie
Sabine Klar Offline



Beiträge: 20

27.06.2007 13:15
feministisch-systemische Arbeitsgruppe Antworten

Die feministisch-systemische Arbeitsgruppe trifft sich regelmäßig (Treffen immer Dienstag von 18:30-20:30; Termine sind zu erfahren bei: verena.kuttenreiter@wiso.or.at). Weitere TeilnehmerInnen sind erwünscht, Stellungnahmen zu den Berichten über die einzelnen Treffen aber auch im Rahmen dieses Internet-Forums möglich (Anm. Sabine Klar: das IAM fördert sozusagen über Eröffnung dieses thematischen Raums die Themen und Inhalte der feministisch-systemischen Arbeitsgruppe, die sich unabhängig vom IAM konstituiert hat)

Thematische Schwerpunkte der Arbeitsgruppe:
Texte/Artikel diskutieren: Ausgewählte Artikel, die hinsichtlich feministisch-systemischer Fragestellungen spannend erscheinen, werden von der Gruppe gelesen und bei AG-Treffen gemeinsam diskutiert; Intervision: Möglichkeit von Fallbesprechungen und des fachlich-kollegialen Austauschs; Diskussionsforum, wo wir uns mit den Implikationen bzw. der praktischen Umsetzung einer feministischen Haltung in der systemischen Therapie beschäftigen möchten; Ziel: Erarbeitung von „Werkzeugen“ via intervisorischen Fallanalysen sowie theoretische Überlegungen; als eine Idee geistert auch ein feministisch-systemisches Symposion herum, wobei wir das erst in einer späteren Phase weiterdenken werden. Mit einfachem Mehrheitsbeschluss entscheiden wir, dass die FS-AG auch für männliche Teilnehmer/Mitarbeiter offen ist ...

Sabine Klar Offline



Beiträge: 20

27.06.2007 13:17
#2 RE: feministisch-systemische Arbeitsgruppe Antworten

Ausgehend von einem Fall (eine schwierige Mutter-Tochter-Beziehung) widmeten wir uns bei unserem Treffen am 20.3. Frauenbeziehungen (und deren patriarchal geprägten Ab- und Hintergründen) sowie dem "Aufopfern". Sehr oft beobachten wir in Therapiesitzungen Frauen, die miteinander/ gegeneinander kämpfen - vielfach bei Thematiken, die frau wundern lässt, wieso die dazugehörigen Männer (Väter, Partner etc.) und deren Un/Taten - Untätigsein außen vor gelassen werden.
Luce Irigarays These, dass Frauenbeziehungen in einem patriarchalen System hauptsächlich von Neid und Konkurrenz geprägt sind, drängt sich auf. Eine besondere Herausforderung stellt mitunter das "Leiden" und "Sich-Aufopfern" von Frauen für andere (Kinder, Partner, zu pflegende Angehörige) dar, welches therapeutisch (aus-)gehalten werden will/soll - die Frage ist dann aber: wie? Wir diskutieren die Chancen und Grenzen konfrontativer Zugänge vs. Alternativen dazu. In der Diskussion wurde deutlicher, dass unsere Wahrnehmungen mancher Klientinnen als ohnmächtig, hilflos oder Opfer zu überdenken sind, weil darin oft mehr Kraft und Wut steckt, als wir vielleicht denken. Die Wut bzw. Aggression entsteht dann oft bei uns Therapeutinnen ob der in Hilflosigkeit und Aufopferung verharrenden/"störrischen" Klientin und dürfte als nicht-artikulierte od. offen gelebte Emotion bei den Klientinnen ebenfalls präsent sein. Es bleibt zu überlegen, was die Frauen von ihrem Lieben bis zur Aufopferung haben: Wenn wir davon ausgehen, dass diese Art zu leben in Weiblichkeit als Konzept eingeschrieben ist, dann würde gelten: je mehr Identifikation mit traditionellen weiblichen Lebensentwürfen, desto unausweichlicher das Leiden? "Ich leide also bin ich, sagte die Frau im Patriarchat"? Schließlich diskutieren wir auch die Differenz zwischen der Art und Weise, wie Frauen sich/ihre Leistungen im Gespräch oft runtermachen und deren Allmachtsempfindungen im Hintergrund, alles am Besten zu können (z.B. in bezug auf Kind/Haushalt - ohne mich geht gar nichts!) und die patriarchale Teilung der öffentlichen/privaten Sphäre - in der Öffentlichkeit das Schweigen und in den eigenen vier Wänden die Dominanz der Frauen. Es wird gemutmaßt, ob die Selbstdarstellung/-wahrnehmung von Männern genau gegengleich funktioniert: Gockelgehabe in der Öffentlichkeit und
kleiner Bub zu Hause.

Sabine Klar Offline



Beiträge: 20

27.06.2007 13:18
#3 RE: feministisch-systemische Arbeitsgruppe Antworten

… in einer kleinen runde haben wir letztes mal die idee geboren, evtl. die ein oder andere veröffentlichung (sei es in den netzwerken oder den systemen oder sonstwo) unter dem namen unserer arbeitsgruppe zu tätigen - um den schon langweiligerweise immer wieder totgesagten begriff des feminismus aufs tapet zu bringen und um zu zeigen, dass sich diesbezüglich hier bei uns (den systemikerinnen, der ÖAS, den psychotherapeutinnen, ... wie auch immer) was tut …dann haben wir des längeren über den begriff der neutralität diskutiert und anhand eines fallbeispiels die grenzen der neutralität, aber auch die eventuell auftretenden schwierigkeiten einer parteilichen haltung diskutiert … die frage war (genauer gesagt: ein angriff auf eine kollegin aus unserer gruppe von einem männlichen arbeitskollegen), ob eine feministische therapeutin für eine klientin, die sich für einen - im weitesten sinn - sie misshandelnden mann entscheidet, quasi die "richtige" therapeutin sein kann ... ein punkt, der mir haften geblieben ist, war, dass parteilichkeit im sinne eines sturen vertretens bestimmter ideologischer positionen vermutlich früher oder später wohl in therapeutische sackgassen führen wird, dass aber eine parteilichkeit, die sich daraus ableitet, dass die therapeutin (so wie es im geschilderten fallbeispiel war) ihre präferenzen für bestimmte lösungen transparent macht und gleichzeitig offen ist für die wahrnehmung der wünsche, auch ambivalenzen der klientInnen, durchaus produktiv für den therapeutischen prozess ist … kurzer einschub meinerseits: wenn ich es mir so überlege, liegt, glaube ich, in dem vorwurf, feministinnen könnten ja nicht neutral sein, eine ständige verwechslung von konstruktneutralität und personenneutralität vor und dann ist man schnell beim verdacht der männerfeindlichkeit bzw. beim verdacht, frauen, die sich für "böse" männer entscheiden sind für feministinnen "blöde" frauen (weil sie mit "bösen" männern kooperieren) - das wäre dann aber blöder feminismus und ist mitnichten das, worum es uns (auch als therapeutinnen) geht … aber eine präferenz für das konstrukt des gleichberechtigten, menschenwürdigen, gewaltfreien umgangs miteinander, die muss mir erst einmal einer wegargumentieren können. therapeutin hin oder her ... (dazu im übrigen sehr schön herta nagl-docekal, die eine feministische haltung als eine gesellschaftliche ungleichheiten kritisierende als selbstverständlich für jede demokratische haltung sieht - "feministische philosophie", Fischer Taschenbuch, Frankfurt am Main, 2000) … oder wie seht ihr das? vielleicht diskutieren wir ja nächstes mal darüber weiter ... gegen ende sind wir dann noch bei der sehr praktischen frage gelandet, ob frauen eher durch mehr kinderbetreuungsplätze im frühen alter der kinder gedient ist oder aber, frauen sich ihr recht auf daheim-bei-den-kindern-bleiben nicht nehmen lassen sollten. sollte wohl zur wahl stehen für jede frau war, denke ich, die konklusio ... so, ende meines berichtes, bis zum nächsten mal … verena

Sabine Klar Offline



Beiträge: 20

27.06.2007 13:20
#4 RE: feministisch-systemische Arbeitsgruppe Antworten

Sabine Kirschenhofer möchte eine Stellungnahme der Arbeitsgruppe dazu schreiben, dass das systemische Kaffeehaus der LASF zum Thema „Der Körper und die systemische Therapie“ zur Gänze von 4 männlichen Referenten gestaltet wird, was schon etwas merkwürdig ist. Die feministisch-systemische AG wird auf der ÖAS-Website präsent gemacht. Sabine Klar bietet an, die Protokolle unserer Arbeitsgruppe auf der Plattform des Internetforums des IAM anderen InteressentInnen zugänglich zu machen. Verena hat einen Falter-Artikel über Feminismus mitgebracht, aus dem sie Zitate vorliest und den wir diskutieren. Es geht u.a. darum, dass jüngere Frauen auf dem Erkämpften und Erreichten der Feministinnen aufbauen, dies aber nicht mehr wahrnehmen/sehen, weil sie es für selbstverständlich/ normal halten. Viele Frauen distanzieren sich von der Zuschreibung Feministin, weil sie Angst haben, als unattraktive verhärmte strenge Besserwisserinnen zu gelten und in (sexistische, patriarchale) Klischeeschablonen eingesetzt zu werden. Gleichzeitig vertreten aber genau diese Frauen durchaus feministische Positionen – sehr oft mit dem Zusatz „aber ich bin ja (eh) keine Feministin“. Wodurch der Mythos der männerfeindlichen hässlichen alten Jungfer, die ja nur deshalb Feministin geworden ist, weil sie keinen abgekriegt hat, weiterblühen kann. Verena möchte gerne die gängigen systemischen Paartherapiekonzepte (insbesondere Retzers Leitdifferenz von Liebe/Partnerschaft) kritisch diskutieren ev. als Programm fürs nächste Treffen. Wir beginnen Verenas These zu diskutieren, dass jede Paartherapie die Therapie eines Ungleichheitsverhältnisses darstellt und welche Schwierigkeiten/Besonderheiten dies aufwirft. Verena definiert Ungleichheit damit, dass sich eine/r an die Normen/Definitionsmacht des anderen anpasst – es können auch internalisierte Normen sein die knechten. Wir sprechen darüber, dass die deutschsprachige systemische Szene, welche viel an dominanten Diskursen vorgibt (Retzer, Ludewig, Clement etc.) mit herausragender Blindheit bzw. Ignoranz – das Geschlecht betreffend – glänzt. Glücklicherweise gibt es durchaus andere paartherapeutische Ansätze (Jellouschek, Gottmann – auch Männer), die wesentlich partnerschaftlichere und progressivere Ansätze und Reflexionen beinhalten und weitere Verbreitung in der Ausbildung finden sollten/könnten. Sabine Klar meint, wenn sie als Therapeutin alleine mit einem Paar arbeitet, denkt sie dass durch die Konstellation weibliche Therapeutin und Klientin und Klient bereits eine Verschiebung eines Machtungleichgewichts zugunsten der Frau stattfindet (ein Gedanke im nachhinein: Aber was bedeutet das im Umkehrschluss dahingehend, wenn ein Therapeut alleine eine Paartherapie macht??)

Die Termine für Herbst sind: 11.9.07, 23.10.07, 4.12.07 - jeweils 18:30, Praterstr. 40

Sabine Klar Offline



Beiträge: 20

22.10.2007 17:29
#5 RE: feministisch-systemische Arbeitsgruppe Antworten

Treffen 11.9.07 (Protokoll Verena Kuttenreiter):
sabine und ich haben einige stellen/thesen vorbereitet um über arnold
retzer und sein konzept "liebe - partnerschaft" zu diskutieren.
herr retzer, der von sabine ob seiner - bei offensichtlichen
ungleichheiten - völlig neutralen sprache kritisiert wurde (so ungefähr:
"in der produktionsphase wird es oft schwierig mit der arbeitsaufteilung"
... sabine: könntest du da vielleicht das zitat raussuchen und ergänzen,
würd sich schon auszahlen, meine ich. ich kriegs leider nicht mehr hin)
hat ja die systemtherapeutische theorie mit der einführung der binären
unterscheidung von liebe und partnerschaft belebt.
da das männliche geschlecht trotz bereits selbst geäußerter kritik an
dualismen, die das dritte (und vierte und ...) ausschließen, nicht müde
wird, diese einzuführen, lohnt sich zumindest eine debatte derselben.
folgende kritikpunkte sind zumindest mir haften geblieben:
erstens schleicht sich auf diese weise erneut ein liebesbegriff ein, der
in den letzten 2 jahrhunderten vor allem auf kosten der frauen ging und
ihnen "aus liebe" alles mögliche abverlangte. von der hausarbeit bis zum
beischlaf taten und tun frauen (die dann übrigens "zu sehr lieben") nach
wie vor vieles, was sie - aus einem partnerschaftlichen/gleichberechtigten
blickwinkel vielleicht nicht tun würden.
so tut frau aus unserer sicht gut daran, ein (männliches) aufwärmen von
liebesmythen zu hinterfragen. wie im übrigen auch die (hauptsächlich von
männern ventilierte) these, dass die "gleichberechtigen" beziehungen, wo
keinerrr mehr was fordern darf und männer darauf rücksicht nehmen, was
frauen wollen und vor allem nicht wollen, in die sexuelle öde und fadess
schlechthin führen. weil: das stimmt ja einfach gar nicht!
zweitens ist das ja so einfach nicht mit der trennung der begriffe, mit
dem dualismus liebe - partnerschaft an sich: was ist denn, wenn jemand für
sich liebe eben nicht (wie arnold retzer) mit absolutheit, irrationalität,
ausschließlichkeit, leidenschaft, hingabe, geschenk usw. verknüpft,
sondern mit gleichberechtigung (oder gar "gerechtigkeit"),
partnerschaftlichkeit, ausgeglichenem geben und nehmen, mit
dauerhaftigkeit, stabilität, sicherheit, usw.?
will er/sie dann tatsächlich unmögliches verbinden bzw. verwechselt er/sie
dann wirklich verschiedenes oder hätte er/sie nicht vielleicht einfach nur
einen anderen liebesbegriff als herr retzer und eine lange, beständige
tradition?

wir kamen zu guter letzt zu folgendem (glaube ich) konsens: jedem
klienten/jeder klientin ihr/sein persönlicher liebesbegriff.
es schadet nicht, ihn zu befragen. manche von uns tun dies indem sie
direkt fragen: "lieben sie ihre frau/ihren mann?, andere sind mit dieser
frage zögerlicher. wozu überhaupt den begriff "liebe" einführen - er zeigt
sich doch in beschreibungen des beziehungsalltages ...
conclusio, wie auch immer: wir haben uns nach den vorstellungen unserer
klientInnen und deren definitionen von liebe zu richten - retzer kann mit
seiner analytischen unterscheidung von liebe und partnerschaft im
hinterkopf hilfreich sein, muss es aber nicht.
wenn ich was eurer meinung nach wichtiges vergessen hab, bitte ergänzen!
für mich wars ein sehr erhellendes treffen. wir haben gut diskutiert,
finde ich!

Sabine Klar Offline



Beiträge: 20

12.11.2007 18:28
#6 RE: feministisch-systemische Arbeitsgruppe Antworten

Protokoll der FSAG vom 23.10. 2007


anwesend:
Elisabeth Klar, Sabine Klar, Verena Kuttenreiter, Michi Mühl, Hedi Wagner
& Sabine Kirschenhofer (Protokoll).

Corina Ahlers ist heute krank – per Telefon meldet sie Interesse an folgendem Thema an: Ausbildungsstatistiken und Geschlechterverteilung > in Fachspezifika 80/20 Studentinnen/Studenten, bei LehrtherapeutInnen: 50/50.


Netzwerke: wir werden öffentlich wirksam!

Angeregt durch Sabines Doppelironietext (inspiriert von A. Retzer und seinen illuminierenden Ansagen über die „Produktionsbeginnsphase“) bleiben wir dann bei einigen Zitaten hängen und beschließen, ebenfalls in die „Produktion“ zu gehen.

Im Anschluss an unsere Diskussion wird jede zu diesen Zitaten ein paar Gedanken/Sätze formulieren und an Verena e-mailen, die diese dann in einer Art Gruppendiskussionsprozess bzw. -ergebnis zusammenfasst > In den nächsten netzwerken, die im Dezember erscheinen, wird dann das Retzer-Zitat samt Ironietext und Gruppendiskussion als Produkt aus der Werkstatt der FSAG publiziert. Das wird sozusagen unser erster öffentlicher Auftritt als Arbeitsgruppe.


Hier nochmals die zwei Zitate fürs Arbeiten:

„IV. Entwicklungsphasen von Paarbeziehungen“
„5. Produktionsbeginn: Kinder, Karriere, Kapital“ …

„Auch wenn Ähnlichkeit zwischen den Partnern – oder besser: vermutete und zugeschriebene Ähnlichkeit – mit einer höheren Zufriedenheit einhergeht, ist Ähnlichkeit nicht gleichbedeutend mit Verträglichkeit. Unähnlichkeit schließt Kompatibilität nicht aus. So sind etwa Konstellationen, in denen beide Partner hohe berufliche Karriereziele verfolgen, mit einem hohen Trennungsrisiko assoziiert; ähnliche Orientierungen können also offenbar auch zu Konflikten in praktischen Fragen des Zusammenlebens und der Lebensgestaltung führen (Reichle 1994, Rosenkranz & Rost 1998, Brandstädter%Felser 2003).
Grundsätzlich gilt, dass Paarbeziehungen, die nicht durch die Bereitschaft einer teilweisen Einschränkung von Individualität und Freiheiten gestützt sind, auch nach empirischen Befunden nicht über die für langfristige Paarbeziehungen erforderlichen Kohäsions- und Koordinierungspotentiale verfügen. Die Bereitschaft, eigene Ziele und Ansprüche partnerschaftlichen Belangen unterzuordnen, erscheint vor diesem Hintergrund als die zentrale Ressource für die Stabilität des Beziehungssystems und seiner Widerstandsfähigkeit gegen Konflikte und Belastungen. Dies gilt besonders für die Phase der Produktion von Kindern, Karriere und Kapital.“ (S. 312)
(Retzer, Arnold: Systemische Paartherapie, Klett-Cotta: Stuttgart, 2004)


Die Diskussion aufgreifend sind mir folgende Punkte hängengeblieben (und was immer davon euch brauchbar erscheint, können wir für die „Gruppendiskussion“ nehmen):

Retzer gibt vor, sich neutral zu befassen mit den Veränderungen, die Paare betreffen, wenn sie Kind/er bekommen. Doch alleine dass er etwa fordert, Individualität und Freiheit müssten eingeschränkt werden, kann nur vor dem Hintergrund gesellschaftspolitischer Umbrüche gesehen werden, wo diese Art der Einschränkung nicht mehr selbstverständlich (und in höchstem Maße in komplementärer Arbeitsteilung, Mann Haupternährer, Frau Nebenernährerin und Familienversorgerin) vom Großteil der Paare gelebt wird.

Retzer verwendet objektivistische Sprache wie etwa eine Beweisführung unter Rückgriff auf „empirische Befunde“ …wobei die Leserin nie erfährt welche er da meint. Diese Argumentationsweise greift auf das landläufige Rekurrieren auf Stehsätze wie „es ist erwiesen dass“ zurück, die gefolgt werden von der persönlichen Meinung. Letzere wird nie als solche ausgewiesen, was einer traditionellen patriarchale Sprechweise entspricht, die sich Definitionsmacht aneignet, indem sie die eigenen Interessen/Positionen negiert und als objektiv, allgemeingültig, Wahrheit und Wissen ausgibt.

Retzers Zitat wird interpretiert als Aufruf dahingehend, bei bewährten (?) Modellen der Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern zu bleiben. Da es – in Zeiten von Gender Mainstreaming - jedoch nicht mehr zeitgemäß ist, so was auszusprechen, wird so getan als ob das eine ganz individuelle Entscheidung eines Paars wäre. Die Conclusio, dass möglicherweise BEIDE in dieser Phase sich (karrieremäßig) einschränken müssen, wird von ihm nirgends erwähnt – eine Conclusio, zu der im übrigen andere AutorInnen (jüngere? gender-reflektiertere?) sehr wohl kommen.
So tun als Ob es Gesellschaft und daraus resultierende „Sachzwänge“, Rahmenbedingungen, Gewohnheiten, Normen, Werte nicht gäbe, treibt eine Individualisierung voran, die Schwierigkeiten und das Scheitern ebenfalls individualisiert und somit den Leidensdruck von Paaren erhöht.

Sprachlich überwiegen strukturkonservative gefärbte Termini wie „Produktionsbeginn“ – „Kinder, Karriere, Kapital“ … die Funktionalität des Systems im Sinne einer Firma, die gut läuft, steht im Vordergrund.
Normative Bilder von ganz bestimmten sozialstrukturellen Milieus und deren Lebens- und Familienentwürfen werden verallgemeinert bzw. als einziges Modell in den Raum gestellt … gleichgeschlechtliche Paare, kinderlose Paare/Ehen (diese werden in selbigem Produktionsbeginnkapitel mit einem beiläufigen Satz erwähnt: diese wären mit einem höheren Trennungsrisiko verbunden), andere Familien- und Beziehungsformen existieren in Retzers Welt der „Paartherapie“ nicht bzw. kann geschlussfolgert werden, dass sie „deviant“ bleiben.


Diskussionsthema 2:
Manche Facetten von Weiblichkeit als Teil unseres Gewordenseins/Besonders-seins/ unserer Persönlichkeit bzw. als „Machtmittel“, um in einer ungleichen Welt zumindestens für sich ein bisschen für Ausgleich zu sorgen?

Hier entspinnt sich eine Kontroverse:
Schaden Frauen sich selbst (im Sinne einer partnerschaftlichen Zukunft), wenn sie auf manche Privilegien, die das Patriarchat (für manche Frauen bzw. in ganz bestimmten Kontexten) auch zu bieten hat, verzichten?

Zum einen wird vertreten, dass wir es eh schwerer haben (ernst genommen zu werden, respektiert zu werden etc.) und dass man dann zu jedem Strohhalm greifen sollte, um nicht immer nur die Blöde zu sein.

Zum anderen wird in den Raum gestellt, dass man sowohl der Sache (Feminismus, einer anderen Zukunft) schadet als auch sich selbst (längerfristig), wenn man mit weiblichen Mitteln „spielt“, diese „ausnutzt“ um es sich gut gehen zu lassen od. sich Vorteile zu verschaffen. Denn, der Haken an der Sache könnte sein, dass genau dieses Spielen mit „unlauteren Mitteln“ dazu verwendet wird, uns weiter festzuschreiben in traditionellen Weiblichkeitsbildern und dazu benutzt werden, uns weiterhin nicht ernst zu nehmen.

Verena bringt als Beispiel Madonna (die Sängerin, individuell erfolgreich mit der Vermarktung als Sexsymbol) vs. die MTV-Ästhetik, wo sich die Geschlechterhierarchie sehr deutlich in Zuhälter&Prostitutierte (Frauen als sexuelle Nutzobjekte) manifestiert.

Doing Gender … wie kleiden/stylen/geben wir uns, wann, wo, wie und wofür … inwiefern tun wir das für uns und inwiefern tun wir es mit verinnerlichten Bildern des Männern-Gefallenwollens und inwiefern sind wir überhaupt dazu in der Lage, diese Unterschiede wahrzunehmen.


Noch was anderes:
Sabine wird Andrea Ebbecke-Nohlen per e-mail kontaktieren und sie fragen, wie und wohin ihre feministischen Energien entfleucht sind oder ob sie diesbezüglich in den Untergrund gegangen ist > Anlass dafür war die Feststellung, dass im deutschsprachigen Raum in der systemischen Szene Gender/Feminismus so wenig Thema ist. Und was aus den wenigen Frauen wurde, die sich vor 15/20 Jahren damit beschäftigt haben. Sabine hat sich die Website von Frau E.N. angeschaut, die anderweitig durchaus produktiv und aktiv zu sein scheint.


Nächster Termin: 4.12. um 18:30, IEF

Sabine Klar Offline



Beiträge: 20

05.02.2008 18:46
#7 RE: feministisch-systemische Arbeitsgruppe Antworten

Protokoll der feministisch-systemischen Arbeitsgruppe
Vom 22. Jänner 2008
Dabei waren: Anita, Corina, Elisabeth, Hedi, Sabine, Sabine, Verena
Protokoll: Sabine Kirschenhofer


ACHTUNG: nächster Termin
am 11. März um 18:30, wie immer am IEF, Praterstr. 40
Nächstes Mal
steht die Diskussion zu einem Kapitel aus David Schnarchs Buch „Die Psychologie sexueller Leidenschaft“, Stuttgart, Klett Cotta, 2006 – nämlich „Zweier-Dilemmata und der normale Sadismus in der Paarbeziehung“ (S. 344-378) auf dem Programm.
Wer den Text noch braucht, kann sich diesen in der Praterstraße abholen (habe für Anita&Michi schon 2 Exemplare kopiert) – liegen im Sekretariat in Sabine Kirschenhofers Fach. Eine Kopiervorlage liegt ebenfalls in meinem Fach (ev. für Sabine, Elisabeth od. Hedi).

***

Am 22.1. stand ein Artikel von Scheinkman in der Familiendynamik 2007 zur Diskussion: „Über das Trauma der Untreue hinaus“

Wir tauschen uns anhand von Fällen aller aus über verschiedene Zugänge/Umgangsweisen/Bewährtes in Zusammenhang mit Außenbeziehungen.
Wir stellen fest, dass die im Scheinkman Artikel kritisierte gängige U.S.amerikanische Praxis des Vorgehens bei Außenbeziehungen (Zwang zur Aufdeckung, oberste Priorität von Transparenz/Offenlegung, Weigerung der therapeutischen Weiterarbeit wenn Therapeutin von einem/einer von geheimer Affäre erfährt) im deutschsprachigen Raum nicht unbedingt „state of the art“ ist.

Scheinkman hält es für wichtig, die Aufdeckung einer Affäre (und anschließend die Beendigung) nicht als Ziel vorzugeben sondern zu respektieren, dass dies eine Frage der Selbstbestimmung ist; sie kombiniert hier Einzelsitzungen und Paarsitzungen.

Wichtiger Aspekt: gesellschaftlich wurden/werden Außenbeziehungen je nach Geschlecht unterschiedlich bewertet. Für Frauen haben/hatten Außenbeziehungen meistens schwerwiegendere Konsequenzen als für Männer. Pub. Von Laumann et al. (1994): Männer lassen sich häufiger wegen Untreue scheiden als umgekehrt. Frauen müssen härtere Konsequenzen fürchten, denn Männer verzeihen seltener und neigen eher zu Rache und Gewalt.
Auch wenn dies vielleicht in Einzelfällen ganz anders sein mag, auch wenn obige Ergebnisse etwas platt klingen, so sollte dieser soziokulturelle Hintergrund als Möglickeit im Auge behalten werden.

Für (traditionell geprägte) Männer bedeutet das Fremdgehen der Frau z.T. eine „Entwertung“ ihres „Eigentums“. (ich hatte vor kurzem genau so einen Fall, d.h. zu sagen, diese Zeiten sind vorbei, trifft wahrscheinlich nur für bestimmte progressivere Milieus zu)

Im Scheinkman Artikel steht auch, dass in Kulturen, die den Ehebruch tolerierten, in keinem Fall ausschließlich Frauen dieses Vorrecht hatten. Im Judentum galt, dass Frauen immer schuld sind, wenn es zu einer Außenbeziehung kommt, Männer nur im Fall eines „Eigentumsdelikts“, d.h. wenn die Affärenfrau einen anderen Mann hat bzw. diesem gehört.

Ansonsten wird in dem Artikel auch ein Buch von Laura Kipnis (Liebe – eine Abrechnung, 2004) rezipiert: Die Autorin kritisiert, dass die U.S. amerikanische Kultur partnerschaftliche Beziehungen zum postfeministischen Ideal erhoben habe. Kipnis sieht Paartherapie als Teil einer repressiven sozialen Reglementierung zur Aufrechterhaltung des status quo. Als Hauptproblem der Paare die Erwartung, dass Partner/in sämtliche Bedürfnisse befriedigen muss.

Eine Position, die mich immer wieder sehr beschäftigt, wobei ich in Paartherapien die repressive soziale Reglementierung weniger in bezug auf die Anpassung an postfeministische partnerschaftliche Langweilebeziehungen erlebe, sondern mehrheitlich in bezug auf leider nicht „postpatriarchale“ (ach wie schön wenn das schon wäre!) sondern klassisch komplementäre Leidensbeziehungen. Womit ich kämpfe ist die Rolle der „Zeugin“ patriarchalen Geschehens aus der Perspektive der Paartherapeutin heraus.
Dies „macht“ u.a. bzw. immer wieder folgendes mit mir: ich erlebe mich wütend/hilflos (nicht aufgrund einer Identifikation mit z.B. der Frau sondern da ich mich in meiner Rolle als Therapeutin nicht besonders wirksam erlebe), finde manches ekelerregend, will manches gar nicht live mitbekommen. Hier spreche ich niemals (oder sagen wir selten) davon, dass irgendein böser übermächtiger Macho sich grauslich seiner Frau gegenüber verhält, sondern ich meine die Selbstverständlichkeiten einer interaktiven Bezogenheit mit enormem hierarchischem Gefälle und sehr unterschiedlichen Auswirkungen/Einschränkungen auf das jeweilige Leben … „ein Spiel das definitiv nur zu zweit geht!“ Und für mich am schwierigsten zu handhaben sind oft die Anpassungsleistungen der Frauen und ihre internalisierten patriarchalen Dogmen, mit denen sie – zum Teil ohne viel explizities, äußerliches Zutun des entsprechenden Partners – sich in die Verhältnisse einfügen.
Es ist davon auszugehen, dass manche Männer jedoch sehr wohl Schwierigkeiten entwickeln würden, wenn ihre Frauen von diesen „Anpassungsleistungen“ Abstand nehmen würden. (Bei manchen jüngeren Paaren, in denen Frauen partnerschaftliche Verhältnisse einfordern und sich ihre Freiheiten organisieren/leben, werden bei den Partnern immer wieder Ordnungssehnsüchte im Sinne von „wieso können wirs denn nicht doch ein bisschen so wie unsere Eltern machen, das war halt schon weniger mühsam“ laut.) > das sind auf jeden Fall Erfahrungswerte aus meinen Paartherapien

Jenseits eines feministischen Hintergrunds taucht die Fragestellung auf, was z.B. Paartherapien mit uns machen im Sinne einer Aufmerksamkeitsfokussierung auf Streitmuster, interaktive Abläufe, typische Streitthemen, Zuschreibungen, sogar Sätze die fallen & als Trigger wirken können. Was davon nehmen wir wie mit nach Hause, indem wir dann in privaten Kontexten (durch den „geschärften Blick“ alias „Tunnelblick“ von der Arbeit) sehr schnell sehr Ähnliches beobachten/wahrnehmen.


Sabine Klar Offline



Beiträge: 20

05.02.2008 20:24
#8 RE: feministisch-systemische Arbeitsgruppe Antworten

Positionen zu einer kurzen Textstelle von Arnold Retzer von der feministisch-systemischen Arbeitsgruppe (mit Einverständnis von V. Kuttenreiter aus den Netzwerken der ÖAS übernommen)

Nachfolgende Textstelle aus dem Buch „Systemische Paartherapie“ von Arnold Retzer löste in der feministisch-systemischen Arbeitsgruppe Widerspruch aus und es entstand die Idee, dass einige von uns ihre Positionen in einem kurzen Text für die Netzwerke verschriftlichen.

IV. Entwicklungsphasen von Paarbeziehungen“
„5. Produktionsbeginn: Kinder, Karriere, Kapital“ …

„Auch wenn Ähnlichkeit zwischen den Partnern – oder besser: vermutete und zugeschriebene Ähnlichkeit – mit einer höheren Zufriedenheit einhergeht, ist Ähnlichkeit nicht gleichbedeutend mit Verträglichkeit. Unähnlichkeit schließt Kompatibilität nicht aus. So sind etwa Konstellationen, in denen beide Partner hohe berufliche Karriereziele verfolgen, mit einem hohen Trennungsrisiko assoziiert; ähnliche Orientierungen können also offenbar auch zu Konflikten in praktischen Fragen des Zusammenlebens und der Lebensgestaltung führen (Reichle 1994, Rosenkranz & Rost 1998, Brandstädter&Felser 2003).
Grundsätzlich gilt, dass Paarbeziehungen, die nicht durch die Bereitschaft einer teilweisen Einschränkung von Individualität und Freiheiten gestützt sind, auch nach empirischen Befunden nicht über die für langfristige Paarbeziehungen erforderlichen Kohäsions- und Koordinierungspotentiale verfügen. Die Bereitschaft, eigene Ziele und Ansprüche partnerschaftlichen Belangen unterzuordnen, erscheint vor diesem Hintergrund als die zentrale Ressource für die Stabilität des Beziehungssystems und seiner Widerstandsfähigkeit gegen Konflikte und Belastungen. Dies gilt besonders für die Phase der Produktion von Kindern, Karriere und Kapital.“ (S. 312)
Aus: Arnold Retzer: „Systemische Paartherapie“, Klett-Cotta: Stuttgart, 2004


Ein Kommentar zu Arnold Retzer von Michaela Mühl

Warum löst diese nüchtern klingende Beschreibung Wut bei mir aus? Vermutlich kann jedes Argument, das ich finde, wiederlegt werden, indem darauf hingewiesen wird, dass Retzer nicht ausdrücklich die Frauen meint, wenn er von der „..Bereitschaft einer teilweisen Einschränkung von Individualität und Freiheiten...“ schreibt, die dann eine „...zentrale Ressource für die Stabilität des Bezugssystems..“ sein soll. Ich kann mir gut die Paare in der systemischen Paartherapie vorstellen, die ähnliche Aussagen eines Therapeuten/einer Therapeutin hören – die Frau wird sich denken „na super, dann darf ich noch mehr zurückstecken und muss noch mehr daheim bei den Kindern bleiben“ und der Mann denkt sich „ausgezeichnet, hab ich ein Argument mehr um weiter meine Karriere zu verfolgen, eh klar, die Frau muss bei den Kindern bleiben“. Ist es so weit hergeholt zu vermuten, dass die von Retzer beschriebene therapeutische Haltung dazu beitragen wird, dass die Frauen noch mehr Familienlast auf sich nehmen und sich die Männer immer munter weiter vor ihrer väterlichen Verantwortung drücken werden (oder sich weiter darauf beschränken werden einen – wenn überhaupt – finanziellen Beitrag zu leisten). Ist es Ziel systemischer Paartherapie dazu beizutragen, die Hauptlast einer Gesamtverantwortung noch mehr auf eine Person (zufälligerweise meist die Frau) zu verstärken?

Ist es Zufall, dass Retzer nicht ausdrücklich betont, dass unbedingt beide Seiten diese Bereitschaft der Einschränkung zeigen müssen? Oder steht doch eine Absicht dahinter und zwar die, Frauen in die traditionelle Rolle der Hausfrau und Mutter zu drängen und bloß nicht als systemischer Therapeut dazu beizutragen, dass es zu einer gerechteren Aufgabenteilung kommen könnte, von der die ganze Familie profitiert?


Ein Kommentar zu Arnold Retzer von Elisabeth Klar

Gleich und gleich gesellt sich gern – Gegensätze ziehen sich an. Die Ambivalenz der Rolle von Ähnlichkeit beziehungsweise Unterschiedlichkeit in der Partnerwahl und Paarbeziehung ist weder neues Thema noch eines, bei dem ein eindeutiges Urteil bereits gesprochen wäre. Abgesehen davon stellt vor allem Retzers konfuse Verwendung des Begriffs ein schwerwiegendes argumentatives Problem dar. Meint Retzer hier denn Ähnlichkeit im Sinne von Interessen, Bildung, Weltbild, Menschenbild, kulturellem Hintergrund, politischer Einstellung, religiöser Einstellung, Einstellung zur Beziehung, materieller Lebenssituation, Lebensführung, sexuellen Vorlieben, Genpool oder etwa gleichgeschlechtlichen Partnerschaften? Retzer eröffnet uns das wunderbare und riesige Spektrum der möglichen Ähnlichkeiten zweier Menschen und reduziert sie in Folge lediglich auf die beruflichen Interessen und materiellen Aspekte. Weiters reduziert er die möglichen Auswirkungen dieser einen speziellen Ähnlichkeit auf die negativen. Diese Argumentation ist nicht nur sehr suggestiv, sondern vor allem in keinster Weise wissenschaftlich.

Zur „Phase der Produktion von Kindern, Karriere und Kapital“ ist lediglich anzumerken, dass, wenn man schon kapitalistischen Diskurs in die Familientherapie einbringen möchte, man zumindest so konsequent sein sollte, dann auch tatsächlich wirtschaftliche Theorien zu verwenden. So könnte man zwischen produktionsorientierter (serieller, auf Quantität zielender), produktorientierter (in teurer Einzelanfertigung auf Qualität zielender) und marktorientierter (den Bedürfnissen der Kunden, also der Gesellschaft, anmodellierender) Herstellung unterscheiden. Wie man in diesem Unternehmen jedoch jemals schwarze Zahlen schreiben will, das frage mich nicht. Das erhoffte Outcome ist so unsicher wie in kaum einer Sparte, die Zeitspanne bis zur Amortisierung außerdem viel zu lang, noch dazu wenn man bedenkt, dass die durchschnittliche Lebensdauer einer Firma heutzutage kaum mehr als zehn Jahre beträgt, die eines Familienunternehmens zudem noch kürzer, ein Zeitpunkt, zu dem noch gewaltige Investitionen getätigt werden müssen, möchte man in ferner Zukunft vielleicht tatsächlich einmal Gewinne erzielen.
Allerdings, das muss zugestanden werden, verfügt man auf diesem Sektor, sollte man nicht auf Kindergärten oder Privatschulen auslagern, immerhin über die billigsten Arbeitskräfte der Welt.

Wenn Retzer gewisse Paarkonstellationen mit einem hohen „Trennungsrisiko“ assoziiert, setzt er den Zusammenhalt von Paaren, also die „Stabilität des Beziehungssystems“, als die einzige oder zumindest als die höchste Messlatte für die Beurteilung einer Partnerschaft an. Dass das Paar zusammenbleibt, wird in seiner Priorität offensichtlich über Faktoren wie Selbstbestimmung, Unabhängigkeit oder auch Zufriedenheit gestellt. In diesem Lichte müsste man die Paarbeziehungen vergangener Jahrhunderte als das Idealbild für die Moderne heranziehen, dem es nachzueifern gilt, da hier ja Trennungen oder gar offizielle Scheidungen die Ausnahme von der Regel gewesen sind. Dass man es dagegen auch als positiv sehen könnte, dass Paare heutzutage nicht mehr um jeden Preis zusammen bleiben müssen und dass man disfunktionale Beziehungen, die aufgrund bestimmter Umstände (wie gerade eben der materiellen Abhängigkeit eines/r der PartnerInnen) nicht zu einer Trennung führen, dagegen durchaus auch kritisch beurteilen könnte, wird hier nicht miteinbezogen.


Verdreht und ganz verkehrt, oder: wozu manche Zitate assoziativ inspirieren … ein Kommentar zu Arnold Retzer von Sabine Kirschenhofer

Eine hervorragende Textpassage von Arnold Retzer, sollte sich so manches Paar wirklich mal hinter die Ohren schreiben. Und dann so vollkommen geschlechtsneutral geschrieben – „herrlich“. Bei Partnern ist natürlich von heterosexuellen Paaren die Rede, nicht dass Sie sich da verwirren lassen von der männlichen Grammatik und gar annehmen, da wäre von schwulen Paaren die Rede, die (männliche Grammatik nämlich) ist ja wirklich irreführend, wo doch klar ist, dass beide Geschlechter gemeint sind.
Ja und die für die Kinder-Karriere-Kapital-Phase erforderlichen Kohäsions- und Koordinierungspotentiale, die gehen halt nicht ohne Einschränkung von Individualität und Freiheiten. Dass – in Österreich – immer noch hauptsächlich Frauen die einzigartige Chance nutzen, dem Erwerbsarbeitsleben via Kinderkarenz jahrelang zu entkommen, kann man ja eigentlich als kolossale Benachteiligung der Männer werten, die ihre individuelle Freiheit nicht so luxuriös ausbauen können.
Na und das ist ja ganz klar, dass da so viele Beziehungen ins Schleudern kommen in dieser kritischen Phase, wenn manche Frauen gar nicht daran denken, ihre Freiheiten einzuschränken sondern sie sogar noch ausbauen, indem sie sich da mit dem Säugling respektive Kleinkind einen Lenz machen, jahrelang! Und all das auf Kosten der Männer, die dann in das Los der Allein- oder Hauptverdienenden gestoßen werden.
Immerhin wachen viele Frauen dann ja nach etlichen Jahren wieder auf und versuchen wenigstens, durch schlechtbezahlte Teilzeitjobs diese Schuld maßloser Freiheitsexzesse abzutragen. Aber dann – weil sie ja so lange weg vom Leistungsfenster waren – haben sie das mit der Leistung leider ein bissel verlernt und klagen tagein, tagaus über Benachteiligung der Frau wegen Doppelt- und Dreifachbelastung.
Die besonders Hartnäckigen schaffen es ja tatsächlich, ihre Partner in eine Paartherapie zu schleifen. Wo das Gerede mit der Doppelt- und Dreifachbelastung weitergeht – und dann kann man nur hoffen, dass der Therapeut oder die Therapeutin obiges Buch gelesen hat und allem weiteren Gerede, welche ja nichts außer destruktiv ist, durch entsprechende Interventionen (wir empfehlen feierliches Vorlesen z.B. obiger Zitate) Einhalt gebietet.


Eine Fallgeschichte zu Arnold Retzer von Hedwig Wagner

„Produktionsende"?
Lieber Herr Retzer, wieso landete dieses produktive Paar nach 19 jähriger Ehe mit hoher Unzufriedenheit mit ihrer Paarbeziehung in der Familientherapie?

Frau und Herr S. hatten sich für das traditionelle, unähnliche Genderrollenmodell und von großer Bereitschaft getragene Modell, die individuellen Ziele und Freiheiten, den partnerschaftlichen und familiären unterzuordnen, entschieden. Vor 20 Jahren haben sie sich ineinander verliebt. Sie war Friseurin, er Monteur, technische Fachkraft in einem multinationalem Konzern und gerade in ihrem Heimatstädtchen tätig. Beiden waren (Ähnlichkeit) die beruflichen Ziele, Karriere (sie war sehr begabt und hat schon als Lehrling Wettbewerbe gewonnen, er war anerkannt, weil er für die schwierigsten technischen Pannen Lösungen fand) weniger wichtig als eine glückliche Familie zu gründen. So begannen sie bald und erfolgreich mit der Kinderproduktion. 3 Kinder in den ersten 7 Ehejahren, ein viertes noch im 12. Ehejahr. Individuell und bewusst als Paar entschieden sie, dass Fr. S. Haushalt und Kinder betreut und Hr. S. durch Erwerbstätigkeit die finanziellen Grundlagen schafft. Naja, ein wenig mag vielleicht mitgespielt haben, dass seine Firma auch bereit war ein höheres Gehalt zu bezahlen, als ihr Friseursalon. Die Produktionsphase kann als erfolgreich betrachtet werden: 4 Kinder, 2 Mädchen, 2 Buben und ein kleines Eigenheim am Stadtrand, ein Auto ist angeschafft, der Kredit dafür läuft noch. Er ist ein geschätzter Fachmann seiner Firma, hat seinen Job trotz aller Einsparungsmaßnahmen behalten. Sie sorgt für Haushalt und unterstützt einen Adoleszenten, zwei Pubertierende und das jüngste Kind. Was macht unzufrieden?
Hr. S. hat seinen beruflichen Stress (hat er dieses Monat wieder genug Überstunden und Spesen, um alle Familienausgaben bezahlen zu können) bei seinen Auslandsarbeitseinsätzen mit Alkohol sediert und war dann auch daheim gereizt bis zur Gewalttätigkeit. Fr. S. fühlte sich bedroht, hat Polizei und Jugendamt zum Schutz der Familie eingeschaltet. Fr. S, eine quirlige, leistungsfähige Frau hat zwar den Haushalt mit sparsamster Geldgebarung locker geschafft, es gelang ihr aber nicht ausreichend die Kinder fit zu machen, damit diese in den Bildungsinstitutionen ohne Probleme bestehen. Die Buben wollten nicht genug für die Schule lernen, legten sich mit den Lehrern an. Jetzt klagen sie über ihren Stress am Lehrplatz. Die Mädchen lernen brav, die ältere hält ihren Freundeskreis geheim und ritzt sich. Die kleine imitiert die provokanten Pubertierenden. Jetzt hat Fr. S. das Gefühl sie schafft es alleine nicht mehr.
Zum Glück wusste das Jugendamt einen Ausweg: Familientherapie für Familie S. zur Unterstützung der Erziehung.
Mit positiver Konnotation des Produktionserfolgs, Alkoholabstinenz von Hrn. S. und ein paar individuell erarbeiteten Tipps für die Erziehung werden wir die Stabilität dieser Familie doch hinkriegen oder?
Aber werden auch die Kinder die Produktivität, Effizienz und Stabilität dieses Erfolgsmodells fortsetzen?


Klar Offline



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07.04.2008 11:05
#9 RE: feministisch-systemische Arbeitsgruppe Antworten

liebe kolleginnen,
auf wunsch einiger von uns haben wir unsere treffen von dienstag auf
mittwoch verlegt. unser nächstes treffen findet am

mittwoch, den 23. april 2008 um 18.30 im ief

statt.

elisabeth klar hat angeboten, einige textstellen von mary wollstonecraft
shelley (einer feministin des 18. jahrhunderts) zu bringen, die auch aus
heutiger sicht stoff für diskussionen hergeben.
(elisabeth, du warst ja beim termin-ausmachen nicht dabei, hoffentlich
kannst du kommen am 23. april!)


nachlese der letzten sitzung:
anwesend waren: anita fodor, sabine kirschenhofer, marion herbert, hedwig
wagner, corina ahlers, claudia renner, verena kuttenreiter

corina hat für uns ein kapitel aus david schnarchs "die psychologie
sexueller leidenschaft" ausgewählt, das wir vorher gelesen haben.
heftige kritik wurde geäußert an schnarchs sehr direktiver,
konfrontativer, expertenhafter vorgehensweise, die aus unserer sicht
schwer vereinbar ist mit unseren "gelernten" systemischen prämissen.
ein vorwurf war auch, dass er das modell der langzeitehe präferiert und
beziehungserhaltend arbeitet. was meiner ansicht nach damit zusammenhängt,
dass er ein entwicklungsmodell vertritt, in dem schnelle trennungen nicht
zur (anzustrebenden) differenzierung des individuums führen, sondern die
probleme vermutlich eher wiederholt werden.

mir persönlich hat am text gut gefallen, dass er dafür sensibiliert, wie
wir als therapeutInnen möglicherweise dazu beitragen, den klientInnen vor
der lösung ihrer konflikte zu schützen und ihnen damit abzunehmen, dass
sie sich bestimmten fragen und situationen vielleicht stellen müssen. (zb
wenn die frau verheiratet sein möchte mit einem mann, von dem sie möchte,
dass er sie begehrt, sie aber nicht mit ihm schlafen möchte).

bei der interpretation vieler handlungen als sadistisch bin ich mir
unschlüssig: ich interpretiere sie meistens als handlungen aus ängsten
heraus - aber vielleicht ist das auch zu naiv gedacht? manchmal wollen wir
dem partner/der partnerin ja wirklich einfach eins auswischen oder uns
rächen oder ihm/ihr was böses tun um unsere machtposition wiederzuerlangen
oder zu festigen ...

eine kritik aus feministischer sicht ist meiner ansicht nach angebracht,
da eine gewissen schieflage auffällt: die frau im fallbeispiel wird viel
mehr bearbeitet als der mann, ihr muss offenbar massiver zu ihrer
differenzierung "verholfen" werden - beim mann vollzieht sich diese
gewissenmaßen nebenbei, während schnarch vor allem den therapeutischen
prozess mit der frau schildert.
könnte das etwas mit dem von sabine und mir festgestellten
ungleichgewicht: therapeut wendet sich mehr der klientin, therapeutin
wendet sich mehr dem klienten zu - zu tun haben? (siehe unser
forschungsprojekt "die wirksamkeit des unsichtbaren")
oder damit, dass frauen auf grund ihrer sozialisation was aufzuholen haben
in sachen differenzierung ihres selbst? weil sie immer schon mehr auf
andere bezogen denken und fühlen und handeln? sprich: immer den
anderen/die andere mitlaufen haben, wenn sie sich selbst denken? und
schnarch dann, wenn differenzierung das ziel ist, bei der frau mehr zu
arbeiten hat? vielleicht auf mehr "widerstand" stößt?

aus gegebenem anlass heute ein paar anmerkungen von mir zum ablauf unserer
treffen: wir waren - erfreulicherweise !! - recht viele das letzte mal.
und viele von uns haben auch viel zu sagen - was leider dazu geführt hat,
dass immer wieder unterbrochen und ganz schön viel durcheinandergeredet
wurde.

ich würde folgendes vorschlagen:
1.) jede achtet darauf, dass sie ihre redebeiträge auf die wesentlichen
gedanken beschränkt und nicht zu lange redet.
2.) dadurch sollte es leichter fallen, einander nicht zu unterbrechen.
3.) vielleicht überlegen wir uns eine moderation - um es ein bißchen zu
strukturieren.
4.) ein wunsch von mir ganz persönlich: ich mag ausführliche
fallgeschichten dann, wenn sie angekündigt und ausgemacht sind und wir uns
dann alle einer fallgeschichte widmen. sei es als eine art intervision aus
feministischer sicht oder um eine theoretische diskussion einzuleiten oder
zu veranschaulichen.

im fluss einer diskussion - als illustration eines gedankens oder einer
these - reicht, finde ich, eine kurze darstellung ohne detaillreiche
schilderungen. sonst ist es eine unklare mischung aus intervision und
theoretischer auseinandersetzung, die verwirrend und für mich anstrengend
ist. weil fallgeschichten zuhören für mich arbeit darstellt und kein
vergnügen. ich finde also, wir sollten das im vorhinein klar ausmachen um
was es gehen soll.

wenn ihr meinungen dazu habt, bitte gerne an alle mailen.
ansonsten freue ich mich wie immer aufs nächste mal und wünsche euch noch
schöne wochen bis dahin

verena


Klar Offline



Beiträge: 13

07.04.2008 11:05
#10 RE: feministisch-systemische Arbeitsgruppe Antworten

liebe kolleginnen,
auf wunsch einiger von uns haben wir unsere treffen von dienstag auf
mittwoch verlegt. unser nächstes treffen findet am

mittwoch, den 23. april 2008 um 18.30 im ief

statt.

elisabeth klar hat angeboten, einige textstellen von mary wollstonecraft
shelley (einer feministin des 18. jahrhunderts) zu bringen, die auch aus
heutiger sicht stoff für diskussionen hergeben.
(elisabeth, du warst ja beim termin-ausmachen nicht dabei, hoffentlich
kannst du kommen am 23. april!)


nachlese der letzten sitzung:
anwesend waren: anita fodor, sabine kirschenhofer, marion herbert, hedwig
wagner, corina ahlers, claudia renner, verena kuttenreiter

corina hat für uns ein kapitel aus david schnarchs "die psychologie
sexueller leidenschaft" ausgewählt, das wir vorher gelesen haben.
heftige kritik wurde geäußert an schnarchs sehr direktiver,
konfrontativer, expertenhafter vorgehensweise, die aus unserer sicht
schwer vereinbar ist mit unseren "gelernten" systemischen prämissen.
ein vorwurf war auch, dass er das modell der langzeitehe präferiert und
beziehungserhaltend arbeitet. was meiner ansicht nach damit zusammenhängt,
dass er ein entwicklungsmodell vertritt, in dem schnelle trennungen nicht
zur (anzustrebenden) differenzierung des individuums führen, sondern die
probleme vermutlich eher wiederholt werden.

mir persönlich hat am text gut gefallen, dass er dafür sensibiliert, wie
wir als therapeutInnen möglicherweise dazu beitragen, den klientInnen vor
der lösung ihrer konflikte zu schützen und ihnen damit abzunehmen, dass
sie sich bestimmten fragen und situationen vielleicht stellen müssen. (zb
wenn die frau verheiratet sein möchte mit einem mann, von dem sie möchte,
dass er sie begehrt, sie aber nicht mit ihm schlafen möchte).

bei der interpretation vieler handlungen als sadistisch bin ich mir
unschlüssig: ich interpretiere sie meistens als handlungen aus ängsten
heraus - aber vielleicht ist das auch zu naiv gedacht? manchmal wollen wir
dem partner/der partnerin ja wirklich einfach eins auswischen oder uns
rächen oder ihm/ihr was böses tun um unsere machtposition wiederzuerlangen
oder zu festigen ...

eine kritik aus feministischer sicht ist meiner ansicht nach angebracht,
da eine gewissen schieflage auffällt: die frau im fallbeispiel wird viel
mehr bearbeitet als der mann, ihr muss offenbar massiver zu ihrer
differenzierung "verholfen" werden - beim mann vollzieht sich diese
gewissenmaßen nebenbei, während schnarch vor allem den therapeutischen
prozess mit der frau schildert.
könnte das etwas mit dem von sabine und mir festgestellten
ungleichgewicht: therapeut wendet sich mehr der klientin, therapeutin
wendet sich mehr dem klienten zu - zu tun haben? (siehe unser
forschungsprojekt "die wirksamkeit des unsichtbaren")
oder damit, dass frauen auf grund ihrer sozialisation was aufzuholen haben
in sachen differenzierung ihres selbst? weil sie immer schon mehr auf
andere bezogen denken und fühlen und handeln? sprich: immer den
anderen/die andere mitlaufen haben, wenn sie sich selbst denken? und
schnarch dann, wenn differenzierung das ziel ist, bei der frau mehr zu
arbeiten hat? vielleicht auf mehr "widerstand" stößt?

aus gegebenem anlass heute ein paar anmerkungen von mir zum ablauf unserer
treffen: wir waren - erfreulicherweise !! - recht viele das letzte mal.
und viele von uns haben auch viel zu sagen - was leider dazu geführt hat,
dass immer wieder unterbrochen und ganz schön viel durcheinandergeredet
wurde.

ich würde folgendes vorschlagen:
1.) jede achtet darauf, dass sie ihre redebeiträge auf die wesentlichen
gedanken beschränkt und nicht zu lange redet.
2.) dadurch sollte es leichter fallen, einander nicht zu unterbrechen.
3.) vielleicht überlegen wir uns eine moderation - um es ein bißchen zu
strukturieren.
4.) ein wunsch von mir ganz persönlich: ich mag ausführliche
fallgeschichten dann, wenn sie angekündigt und ausgemacht sind und wir uns
dann alle einer fallgeschichte widmen. sei es als eine art intervision aus
feministischer sicht oder um eine theoretische diskussion einzuleiten oder
zu veranschaulichen.

im fluss einer diskussion - als illustration eines gedankens oder einer
these - reicht, finde ich, eine kurze darstellung ohne detaillreiche
schilderungen. sonst ist es eine unklare mischung aus intervision und
theoretischer auseinandersetzung, die verwirrend und für mich anstrengend
ist. weil fallgeschichten zuhören für mich arbeit darstellt und kein
vergnügen. ich finde also, wir sollten das im vorhinein klar ausmachen um
was es gehen soll.

wenn ihr meinungen dazu habt, bitte gerne an alle mailen.
ansonsten freue ich mich wie immer aufs nächste mal und wünsche euch noch
schöne wochen bis dahin

verena


Klar Offline



Beiträge: 13

13.05.2008 11:30
#11 RE: feministisch-systemische Arbeitsgruppe Antworten

Liebe KollegInnen,
nun das dieses Mal etwas kuerzere Protokoll unserer letzten Sitzung:
vorweg zwei wichtige Punkte
> Nächstes Treffen: Donnerstag 26. Juni 2008 um 18:30, wie immer
am IEF, Praterstr. 40.
> Beiliegend ein Text von Tove Soiland: "Ein Aufruf zur theoretischen
Reflexion. Das Spiel mit den Geschlechtern - eine Sackgasse?"

Verena schlaegt beiliegenden Text fuer naechstes Mal zur Diskussion
vor. Ergaenzend moechte ich dazu sagen, dass ich einen Fokus in bezug
auf die Diskussion des Artikels gut faende ... im Sinne von: Was hat das
damit zu tun, was wir wie (oder auch nicht) in unseren Therapien
denken/machen/wollen? Also eine Zusammenfuehrung der Theorie &
unseres praktischen Tuns, wenn das geht!?

Bei unserem Treffen vom 23.4. stand eine Zitatesammlung von Mary
Wollstonecraft (aus "A Vindication of the Rights of Women"),
zusammengestellt von Elisabeth Klar, und - was die meisten von uns
etwas ueberforderte - in 18th century English.
Dazu kam es über eine fruehere Diskussion in unserer Runde betreffend
des Einsatzes von "typisch weiblichen Strategien" (u.a.
stylingtechnische Verführungskünste) und ob die nun den Anliegen von
Frauen schaden od. ob - inmitten einer ziemlich ungerechten
Gesellschaft - mit allen Mitteln gekämpft werden duerfe/solle.

So viel sei verraten, Wollstonecraft war eindeutig der Meinung, dass das
Mitspielen der Frauen beim "Hofieren und Komplimentieren" ihrem
Geschlecht schade - die ritualisierten Interaktionen zwischen Männern
und Frauen (wir befinden uns in der englischen Oberschicht, dies sei
noch erwähnt), wo den Frauen suggeriert wird, sie wären
anbetungswürdige "Angels", denen man Türen öffnen, Fächer und
Riechsalz reichen müsse, hätten eine tückische Kehrseite: Als
eigenständig denkende Menschen könnten sie nicht ernstgenommen
werden & jemand, der sich nicht selbst Türen aufmache(n) (könne),
kann auch als schwächlich oder behindert ausgegrenzt und
ausgeschlossen werden.
Letztlich waren oder sind diese Rituale dazu angetan, Männern zu
versichern, sie wären überlegen, stark, Beschützer, Retter, Verführer,
geniale Denker oder Künstler ... also all diese männlichen Rollen kann
es nicht ohne ein Gegenüber geben, welches schwach, passiv,
unterlegen, beschützenswert, zuhörend, bewundernd dem männlichen
Protagonisten das Publikum macht.

Wollstonecraft war eine scharfsinnige Beobachterin der
Geschlechtermaskeraden und -hierarchien ihrer Zeit und pikanterweise
ist so manche Argumentation auch auf die Gegenwart uebertragbar.
Zumindestens erschienen mir beim Lesen der Zitate einige Paare vor
meinem geistigen Auge.
Ich habe ein paar Zitate herausgesucht, die mir persoenlich besonders
gut gefielen:
" I have endeavoured," says Lord Chesterfield, "to gain the hearts of
twenty women, whose persons I would not have given a fig for."
"The illegitimate power which they obtain by degrading themselves is a
curse..." (mit "they" sind die Frauen gemeint)
"But women are very differently situated with respect for each other –
for they are all rivals." Letzteres behauptet u.a. auch Luce Irigaray.

Klar Offline



Beiträge: 13

23.09.2008 08:52
#12 RE: feministisch-systemische Arbeitsgruppe Antworten

Liebe Kolleginnen,
weiter unten das Protokoll von unserem letzten Treffen

am 10.09.2008
da waren: Gabriele, Hedi, Michi, Sabine und Verena

Zuerst die naechsten beiden Termine:
Mittwoch 22. Oktober, 18:30
Mittwoch 3. Dezember, 18:30

Am Programm stand Brainstorming für etwaige Projekte der AG:
* Projekt 1 lautet: Interviewserie mit Systemikerinnen, die sich
(auch) mit feministischen Themen beschaeftigt haben … auf
die Idee kamen wir, weil Michi Muehl naechste Woche zu
einem Seminar von Marie-Luise Conen faehrt und im Herbst
auch noch nach Heidelberg zu Andrea Ebbecke-Nohlen.
Michi wird die beiden fragen, ob sie bereit waeren, uns
schriftlich einige Fragen zum Thema Feminismus und
Therapie zu beantworten. Bis zum naechsten Treffen
ueberlegt sich jede von uns einige Fragen, die sie an die
beiden haette – wir erstellen dann naechstes Mal so was wie
einen „Leitfaden“. Das Ergebnis dieser Interviews wird in den
netzwerken abgedruckt werden. Danach kontaktieren wir
vielleicht auch noch andere Frauen, z.B. Welter-Enderlin.
* Projekt 2: Historisches Frauenprojekt, Idee von Hedi: Sehr
schnell wird deutlich, wie viel Arbeit das (in welcher Form
auch immer) bedeuten wuerde und die Frage waere dann,
wer moechte und kann sich auch dermaßen
(Literaturrecherchen und -lektuere, Verfassen von Texten,
Organisation von Tagungen samt Finanzaquise, etc.)
engagieren. Kleinster gemeinsamer Nenner wird eine kleine
Frauenportraet-Ausstellung in der OeAS, mit z.B. 5 Portraets
& darueber/danach dann ein Fachartikel. Ueber diese Idee
fangen wir an, Namen von systemischen Theoretikerinnen zu
sammeln, die manche von uns kennen & die mitunter
seltsamerweise von der Bildflaeche verschwunden sind, z.B.
Marianne Kruell, Lynn Hoffmann. Und wir schauen einige
wichtige feministische Publikationen aus der Bibliothek durch.
Vorerst schnuppern wir mal so herum und schauen, wer sich
fuer welche Frau (inhaltlich) interessiert. In diesem
Zusammenhang entspinnen sich Diskussionen rund um die
Publikationsaktivitaeten von Frauen bzw. die Dominanz von
maennlichen Figuren in systemischen Fachkreisen.

Bis zum naechsten Mal,
lg
Sabine

Klar Offline



Beiträge: 13

29.09.2008 11:21
#13 RE: feministisch-systemische Arbeitsgruppe Antworten

Interessante Artikel:

Feminismus versus Gender? Die Replik einer Gendertheoretikerin
Die Gleichzeitigkeit des Verschiedenen
Marion Strunk
Sagt jemand, das Spiel mit den Geschlechtern sei schon alles? Spielen heisst doch probehandeln. Versuchen, scheitern, verlieren, gewinnen, mit allen Schattierungen, die dazwischen liegen. Ein ernsthaftes Spiel bringt immer etwas hervor, sei es Einsicht oder Erkenntnis, Freude oder Verzweiflung. Und alle Spielenden wissen: Ein Spiel kann auch verdorben werden. Der Proberaum ist nur so lange Schutz- und Schonraum, als die Spielenden die Bedingung kennen und wissen, es darf frei nach der Methode von «trial and error» immer wieder neu begonnen werden. Daraus folgt, dass auch das Spiel um die Geschlechter, um das es hier geht, ein Prozess ist und kein Rezept.
Das Fressen vor der Moral
Mit einem «Aufruf zur theoretischen Reflexion» eröffnete Tove Soiland erneut die Debatte um «die Rede vom sozialen Konstrukt», diesmal verbunden mit einer Kritik an der institutionalisierten Geschlechterforschung, den Gender-Studies. Diese versäumten, «mit dem Aufzeigen des Konstruktionscharakters von Geschlecht auch bereits einen machtkritischen Beitrag zu leisten», bedienten einen «neoliberalen Karneval der Identitäten» und seien dabei längst «von einer neoliberalen Realität eingeholt» worden. «Das Spiel mit den Geschlechtern» entspreche demnach dem neoliberalen Wirtschaftskurs und seinen eingeforderten flexiblen Menschen: Flexibilität als das Zauberwort der globalen Marktwirtschaft - immer bereit, sich auf jeden Wechsel einzulassen, an der Arbeitsstelle, am Arbeitsort, in der Arbeitsform, aber unbrauchbar für Veränderung und «politisches Handeln».
Dem Spiel mit den Geschlechtern geht der Diskurs der Konstruktion/Dekonstruktion voraus (das Zauberwort der achtziger Jahre), der dieses Spiel in den Kontext der Geschlechterdifferenz stellt, also die Geschlechtlichkeit als sozial und kulturell konstruiert versteht und damit der Vorstellung einer organisch wirkenden Sexualität widerspricht. Das Spiel mit den Geschlechtern folgt der Einsicht in die zahlreichen Möglichkeiten von Subjektivität und Individualität, die aus den Gender- theorien entstehen können.
Allerdings macht das Spiel auch klar, dass es keine machtfreie Zone geben kann und keine Kommunikationsform, die nicht zugleich ein Machtgefälle wäre. Die klassischen Dualismen wie Natur/Kultur, Frau/Mann, Körper/Geist haben bekanntlich auf Totalität und gesellschaftliche Dauer abgezielt - die Ursache der bestehenden Machtverhältnisse sind sie aber nicht. Damit ist nicht gemeint, dass eine Subjektposition «Frau» nicht mehr eingenommen werden soll. Nur: Im Namen der Frau zu sprechen, verlangt eine fortlaufende Differenzierung und Kontextualisierung. Die Kritik an der Repräsentation (dem Sprechen für andere) ist zugleich Kritik am vereinnahmenden Begriff der Universalität. Die Setzung Mann/Frau zu dekonstruieren meint dann, die soziale Gewordenheit wahrzunehmen und für diese Wahrnehmung einen Ausdruck zu finden. Das kann nicht bedeuten, die «Materialität der Körper» ausser Acht zu lassen (siehe Judith Butler: «Kontingente Grundlagen», deutsch 1993). Aber Körper haben an sich noch keine Bedeutung, sie müssen medial vermittelt werden, als demografisches, ethnisches, medizinisches, sexuelles oder anderes Spezifikum, das sich mithin semantisch «auflädt». Trotzdem kann die Setzung Mann/Frau dem gesellschaftlichen Widerspruch von Gleichheit und Gleichstellung nicht entrinnen. Doch weder das einzelne Geschöpf noch die soziale Ordnung kann ursächlich der Anlass dafür sein. Vielmehr ist es die Verstrickung und gegenseitige Abhängigkeit in einer «conditio humana», die das Fressen vor die Moral stellt.
Mithin wäre es eine überholte, da idealistische Annahme, der Diskurs von Gender könne auf ökonomische Fragen wie «Lohndifferenz, Arbeitsteilung oder Zugang zu Ressourcen» (Soiland) unmittelbar einwirken. Dafür bräuchte es die Umsetzung jener Utopien, von denen wir weiter denn je entfernt sind, 150 Jahre nach Marx und Engels, dreissig Jahre nach 68 und ein halbes Jahrtausend nach Thomas Morus’ «Utopia». Zu kurz greift Soilands Argument, wenn es sich auf eine einzige Position, und die Kritik an Gender-Studies auf den scheinbar falsch verstandenen Machtdiskurs von Judith Butler abstützt, die den späten Foucault nicht gelesen habe und deshalb am juridischen Machtbegriff des frühen Foucault hängen bleibe. Das mag für Butlers Arbeit aus den neunziger Jahren zutreffen, wird jedoch von der Publikation ihrer Frankfurter Vorlesungen 2002 widerlegt («Kritik der ethischen Gewalt» ist ja gerade die Auseinandersetzung mit dem Spätwerk Foucaults). Selbst wenn nicht von der Hand zu weisen ist, dass Butlers Diskurstheorie weniger eine Gesellschaftsbeschreibung entwickelt als vielmehr den Versuch, Subjektivität zu thematisieren und zu differenzieren, kann ihr die grundsätzlich politische Motivation nicht abgesprochen werden. Und ebenso wenig den Gender-Studies, wie sie Butler vorführt. Sie schlägt, vermittelt über Parodie und Ironie, die Haltung der Subversion vor, die innerhalb von revolutionären Bewegungen - man denke zum Beispiel an Comandante Marcos in Chiappas - durchaus Schlagkraft besitzt. Die Gender-Studies selber sind keine soziale Bewegung, wie es etwa der Feminismus war, sondern ein Studium, das in einem spezifischen Sinn Kulturkritik und Kritikkultur betreibt.
Schöpferisches Gegengift
Konstruktion/Dekonstruktion kann als Verfahren gelten, diese Kritik aufzunehmen. Das Begriffspaar verweist auf das Entwerfen und Gestalten, auf den Auf- und Umbau. Sein Thema ist nicht nur die Veränderbarkeit von «Wirklichkeit» via Fakten, sondern die Veränderung der Frage selber. Daraus folgt: Was gemacht worden ist, kann verändert werden. «Weder bringt die Norm das Subjekt als notwendige Wirkung hervor, noch steht es dem Subjekt völlig frei, die Norm zu missachten, die seine Reflexion in Gang setzt; jede Handlungsfähigkeit, auch die der Freiheit, steht in Bezug zu einem ermöglichenden und begrenzenden Feld von Zwängen», schreibt Judith Butler («Kritik der ethischen Gewalt», 2003, S. 28). Was sich differenzieren lässt in individuelle, gesellschaftliche, bewusste und unbewusste Zwänge. Es geht um Handlungsmöglichkeiten, also darum, Varianten zu entwickeln, die eine Alternative zu den Vorgaben bilden, und das ist immer auch eine Frage von Identität und Macht, wie sie im Kontext der Vorgaben erscheint. Die Betonung liegt auf den Unterschieden, dem Unterscheiden, der Hervorbringung des Unterschiedes, und der Zweck besteht darin, diesem Prozess des Unterscheidens (Differenz) Ort und Raum (Darstellung und Sichtbarkeit) zu schaffen. Solches Handeln kann sich nicht auf das «Ganze» richten wie der utopische Entwurf, das hiesse, das Handeln zu instrumentalisieren. Handlungen geschehen situativ und kontextuell, besonders wenn sie innovativ sein wollen. Ihre visionäre Kraft entwickeln sie in der Intensität, mit der sie geschehen. Entscheidend für das Verfahren Konstruktion/ Dekonstruktion innerhalb der Gender-Studies ist gerade die Verhinderung von Ideologie und Fundamentalismus durch die Entwicklung eines Gegenmodells oder einer Art von schöpferischem Gegengift.
Ambivalenz des Dazwischen
Das aufklärerische Postulat der Selbstbestimmung, der Subjektentwurf der Moderne, hat suggerieren können, es gebe ein Ausserhalb, von wo aus Widerspruch und Widerstand entwickelt werden könnten. Die heutige Herausforderung ist die Arbeit innerhalb der Gegebenheit, im Verzicht auf das utopische Ausserhalb, aber nicht ohne nach Veränderbarkeit zu trachten. In diesem Kontext mag der Begriff der Ambivalenz jene Lesarten eröffnen, die für eine «Strategie der Gleichzeitigkeit» relevant sein können.
Ambivalenz wird hier also mit Unentscheidbarkeit übersetzt, was nicht Abstinenz bedeuten soll. Ambivalenz formuliert ein Dazwischen, das sich vom Entweder/Oder, Weder/Noch entfernt und ein Sowohl-als-auch einbringt, und damit Vielschichtigkeit und Mehrdeutigkeit fordert. Denn: Machtausübung und Machterleiden müssen sich nicht notwendigerweise ausschliessen. Der Kontext, die Situation entscheidet über die Ausrichtung und eröffnet möglicherweise jenes Handeln, das Theodor W. Adorno unter «produktivem Widerspruch» verstand.
Die Flexibilität (nach Richard Sennett) könnte eventuell auch dazu dienen, dem viel gepriesenen neoliberalen Markt das Futter zu entziehen, statt es ihm zu liefern, doch kann sie ebenso wenig als Diktat gemeint sein wie die Gender-Theorie. Ausserdem hat der Markt zu jeder Zeit das Subjekt, ob flexibel oder stabil, ausgeweidet und gefressen, denn der Markt ist älter als der Neoliberalismus. Aus der Sprache der Ökonomie könnte ebenso die foucaultsche «Selbsttechnologie» als Selbstmanagement entstehen, also die Ich-AG mit dem Leitsatz: «Regiere dich selbst!» Hierarchie in der Arbeitswelt aufheben und dezentralisierte Netzwerke bilden, das wäre das aktuelle wirtschaftliche Credo. Fluide Subjekte für fluide Märkte oder auch «managing diversity». Das neue Modell von Fiat heisst Multipla.
Kann ein Label aber ein Argument dagegen sein, Flexibilität anders und besser zu nutzen? Flexibilität könnte ja auch Handlungspotenzial bedeuten, nutzbar für eine kreative Anwendung. Die «Gouvernementalitätsstudien» Foucaults, auf die sich der kritische Einwand von Tove Soiland gegen die Gender-Studies bezieht, sind ja gleichermassen in die neoliberale Variante des Marktes eingegangen. Eigenverantwortung und Selbstsorge werden dabei als geschlechtsneutrales Konzept angeboten, um zu einer Neuauflage von Individuierungspraxis zu werden, die dann allerdings wiederum das autonome Subjekt der Moderne bestätigt, und was wäre das anderes als das männliche (siehe Katharina Pühl, Susanne Schulz, 2001).
Ich möchte behaupten, dass die neue Generation mit Flexibilität anders umzugehen weiss, weil sie in der heterogenen, multiplen Wirklichkeit neue Möglichkeiten der Entfaltung erkennt, die sich für die Gleichzeitigkeit des Verschiedenen interessiert. Ganz abgesehen davon, dass das Konzept der multiplen Identitäten die Brüchigkeit der klassischen Begriffe von Nation, Klasse, Rasse verdeutlicht hat, bezeichnet es positiv, dass sich Individuation aus verschiedenen Bezügen und Verortungen erschliesst, von denen different Gebrauch gemacht werden kann, insbesondere in der Konfrontation der Kulturen (man denke etwa an ein dunkelhäutiges Gesicht, aus dem ein breites Züridüütsch spricht).
Die Frage bleibt, wie mit Unsicherheiten umzugehen ist, angesichts des Falls eines Kultur- und Gesellschaftsverständnisses, das Sicherheit anzubieten vorgab und, solange der Sozialstaat währte, diese teilweise auch einzuhalten vermochte. Wie können die Unterschiede, Verschiedenheiten, Flexibilitäten jenseits von Vereinnahmung, Missbrauch, Hierarchisierung in der heutigen Gesellschaft Raum gewinnen, als ein «in between space» (Homi Bhabha, 1994)? Und wie können Gleichzeitigkeit und Vielstimmigkeit ein Handeln motivieren, das politisch ist im Sinne von Einflussnahme, Einmischung? Im Bewusstsein, dass die plakative Subversion von einer agilen Marktstrategie stets vereinnahmt und zur eigenen Optimierung verwendet wird? Die Genderforschung ist also zweifellos mit der Aufforderung konfrontiert, den paradoxen Zusammenhang von Flexibilität und Stabilität der Geschlechterordnung zu diskutieren, sprich: «doing gender» und «undoing gender» wahrzunehmen.
Für ein Leben in der Schwebe
Die Gender-Studies, eine vergleichsweise junge Wissenschaft, haben sich zur Aufgabe gemacht, die nach wie vor bestehende Geschlechterhierarchie in Theorie und Praxis kritisch aufzunehmen und sie zu einem Forschungsgegenstand mit praktischen Anwendungsmöglichkeiten zu machen. Innerhalb von Bildungsinstitutionen sollen sie eine Ausbildung ermöglichen und Kompetenzen vermitteln, die eine berufliche Praxis eröffnen. Sie schliessen sich damit dem wissenschaftlichen Standort an, wie er zunächst in den Geistes- und Kulturwissenschaften ebenso erkundet wurde wie die feministischen Studien. Von diesen unterscheiden sich die Gender-Studies zwar in spezifischen Fragestellungen, sie können sie aber durchaus als Forschungsfeld einschliessen, ebenso wie die Queer-Theorien, postkolonialen Theorien oder Medientheorien, woraus eine fruchtbare Interdisziplinarität entstehen soll. Die kulturwissenschaftlich orientierten Gender-Studies, wie sie die HGK Zürich anbietet, legen den Fokus auf die Analyse der «Visuellen Kultur», auf deren Medien und ihre Kommunikation. Sprache und Bilder reagieren auf Machtverhältnisse, sie transferieren sie durch Darstellung, sie bringen sie nicht, wie Soiland moniert, selber hervor. Geschlecht als soziale (sozioökonomische) Strukturkategorie fungiert dabei höchst wirksam als Platzanweiserin.
Es kann jedoch von einer Ausbildung höchstens verlangt werden, dass sie Methoden und Verfahrensweisen bereitstellt, die von der Veränderbarkeit durch Kritik ausgeht, und so Veränderung von Wissen ermöglichen. Eine soziale oder gar politökonomische Bewegung kann sie nicht sein. Weil Ausbildung Vermittlung ist, nicht Vorschrift oder Anleitung. Diese will mit Gender-Studies ein umfassendes Spektrum von Handlungsräumen eröffnen, die für ein derzeitiges und künftiges «Leben in der Schwebe» produktiv sein sollte.
Autorin
Marion Strunk ist Kulturwissenschaftlerin, Künstlerin. Studienleiterin Nachdiplomstudium Gender Studies in Kunst, Medien und Design an der Hochschule für Gestaltung und Kunst Zürich.
Literatur
Homi Bhabha: Verortung der Kultur. Tübingen 2000.
Judith Butler: Kritik der ethischen Gewalt. Frankfurt a. M. 2003.
Judith Butler: Kontingente Grundlagen. In: Seyla Benhabib, Judith Butler u.a. (Hg.): Der Streit um die Differenz. Frankfurt a. M. 1993.
Isabell Lorey: Immer Ärger mit dem Subjekt. Tübingen 1996.
Katharina Pühl, Susanne Schulz: Gouvernemetalität und Geschlecht. In: Sabine Hess, Romana Lenz (Hg.): Geschlecht und Globalisierung. Königstein 2001.
Die Philosophin: Gender Studies und Interdisziplinarität. Nr. 23, Mai 2001.

Klar Offline



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29.09.2008 11:22
#14 RE: feministisch-systemische Arbeitsgruppe Antworten

Interessante Artikel:


Ein Aufruf zur theoretischen Reflexion

Das Spiel mit den Geschlechtern - eine Sackgasse?

Von Tove Soiland

Mit ihrer Kritik an konventionellen Weiblichkeitsbildern und Rollenklischees verharren die Gender-Studies bei einem alten Machtbegriff - und sind dabei längst von der Gegenwart eingeholt.
Sexistische Sprüche trägt das Teeny jetzt keck auf dem T-Shirt; die Jungen lernen Nähen in der Schule. Und während der onkelhafte Chef allenfalls noch belächelt wird, ist der paternalistische Onkel längst zum Kollegen seiner Nichte geworden. - Kein Zweifel, die Insignien patriarchaler Macht haben ausgedient (und selbst mein Computer unterstreicht das Wort «patriarchal» mit rot, weil es ihn offenbar ein Fremdwort dünkt). Am Geschlechterverhältnis, so scheint es, hat sich fast alles verändert - mit Ausnahme der Unterordnung der Frauen unter die Männer. Denn immerhin ist der Chef noch ein Mann, und die knallharten Daten ökonomischer Ungleichheit scheinen sich um Geschlechterdemokratie nur wenig zu kümmern.
Penis-Piercing am Nabel
Es scheint, als gehe heute ein beharrliches Fortbestehen geschlechtlicher Hierarchisierung problemlos Hand in Hand mit einer eindrücklichen Aufweichung geschlechtsspezifischer Verhaltensweisen: Auch wenn wir uns den silbernen Penis als Piercing an den Nabel stecken, an den wichtigsten Parametern der Ungleichheit zwischen den Geschlechtern wie Lohndifferenz, Verteilung der Arbeit oder Zugang zu Ressourcen ändert sich wenig bis gar nichts. Nach wie vor verdienen Frauen weniger als dreissig Prozent der Lohnsumme; obwohl sie insgesamt mehr als die Hälfte der Arbeit verrichten, ist ihre Medienpräsenz sogar rückläufig und nimmt die Gewalt gegen sie zu. Kann hier die «Dekonstruktion geschlechtlicher Identitäten» Abhilfe schaffen, wie uns ein Grossteil der gegenwärtigen Gender-Studies nahe legt? Oder sind sie gar umgekehrt selbst zum Bestandteil dieser Entwicklung geworden, die nach allem fragt, ausser eben - nach der Unterordnung der Frauen unter Männer?
Ein Blick in die gegenwärtigen Forschungsprogramme von Gender-Studies im deutschsprachigen Raum macht eines deutlich: Eine erfreuliche Vielfalt von Forschungsfeldern und eine rege, meist empirisch ausgerichtete Forschungstätigkeit kontrastiert mit einer auffälligen Einförmigkeit in der Fragestellung: Ob in Pädagogik, Literatur, Sozialarbeit oder Biologie, gesucht wird, quer durch alle Sparten, nach «geschlechtlichen Konstruktionsmechanismen». Fragt sich nur, was damit tun, wenn sie einmal gefunden sind. Denn eigentlich ist das meiste ungeklärt: Was beispielsweise heisst es überhaupt zu sagen, das Geschlecht sei ein «soziales Konstrukt»? Und ist die Gender-Forschung mit ihrer Kritik an normativen Geschlechterrepräsentationen - an Weiblichkeitsbildern, Rollenklischees, Verhaltensvorgaben - nicht längst von einer neoliberalen Realität eingeholt, die die Menschen gerade nicht mehr zu einer bestimmten Lebensweise zwingt, sondern sich umgekehrt die Flexibilisierung sämtlicher Lebensbereiche auf ihre aggressiven Fahnen schreibt? «Das Leben als Projekt ist ein Experiment des Flexiblen», steht nicht etwa im deutschen Hartz-Bericht zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit geschrieben, sondern in einem Kommentar der Gender-Expertin Marion Strunk zum Film «Venus Boyz» von Gabriel Bauer: Modeln wir den Body um nach unsrem Gusto, und es wird sichtbar, dass die Geschlechter gemacht sind. «Gender Game» heisst die Devise. Das Geschlecht ist ein Spiel. Doch die Gewissheit, mit dem Aufzeigen des «Konstruktionscharakters von Geschlecht» auch bereits einen machtkritischen Beitrag zu leisten, lässt bislang im Dunkeln, worin dieser denn besteht. Der Normalverbraucherin mag es deshalb nicht ohne weiteres einleuchten, warum die Pluralisierung der Geschlechter ein revolutionärer Akt sein soll. Und das liegt nicht nur daran, dass sie zu wenig Derrida gelesen hat. Die Sache ist nämlich auch theoretisch unklar.
Dekonstruktion als Selbstzweck
Kein Zweifel, der Begriff Gender hatte seine Nützlichkeit: Ursprünglich eingeführt zur Abwehr biologistischer Kurzschliessungen, bediente die feministische Theorie sich seiner, um klar zu machen, dass die soziale Existenzweise von Frauen und Männern sich in keiner Weise mit irgendwelchen biologischen Gegebenheiten erklären liess. Umgekehrt wies Judith Butler, die gegenwärtig wohl wichtigste Theoretikerin für den deutschsprachigen Raum, zu Recht darauf hin, dass selbst die Vorstellung von der Existenz zweier Geschlechter nicht einfach naturgegeben ist: In ihrer Erweiterung des Gender-Konzepts machte sie deutlich, dass zwischen der Annahme einer angeblich biologischen Zweigeschlechtlichkeit und dem, was sie die «heterosexuelle Matrix» nennt, ein intimer Zusammenhang besteht. Dass Identitäten beziehungsweise die damit verbundenen Weisen der «Subjektivierung» zutiefst in Macht eingebunden sind, ist eine gesellschaftstheoretische Annahme, die zweifelsohne Sinn ergibt. Doch, scheint mir, ist genau diese machttheoretische Verknüpfung aus dem Blickfeld der Gender-Studies verschwunden und damit die Fruchtbarkeit des Versuchs, Identitäten als politisches Problem wahrzunehmen.
Ist es denn erwiesen, dass «Geschlechterrepräsentationen», «Weiblichkeitsvorstellungen», «Rollenverhalten», «kulturelle Codierungen» überhaupt für Prozesse geschlechtlicher Hierarchisierungen verantwortlich sind? Die Dekonstruktion geschlechtlicher Identitäten ist zu einem Selbstzweck geworden, dessen Perspektive machtanalytisch gesehen unklar bleibt: Wäre es die Vorstellung, dass die Aufhebung geschlechtsspezifischer Sozialisation auch die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern beseitigte? Doch mit welchem Grund würde so etwas angenommen? Ist es die Vorstellung, dass die Heterosexualität den Kapitalismus stützt? Doch wer sagt, dass homosexuelle Strukturen nicht ebenso geschlechtliche Arbeitsteilungen portierten? Und wäre es jemals einem Marxisten eingefallen, die Ausbeutung des Arbeiters auf ein «arbeiterspezifisches Verhalten», gar auf spezifische Repräsentationen «des Arbeiters» zurückzuführen? Zweifellos stand E. P. Thompson ein anderer Konstruktionsbegriff vor Augen, als er sein Buch «The Making of the English Working Class» nannte.
Die Eselin am Schwanz aufzäumen
Machtverhältnisse sind nicht immer und nicht notwendig auf die Machtwirkung normativer Vorgaben zurückzuführen. Doch nahezu ausschliesslich als ein Problem solcher Vorgaben wird gegenwärtig in der Gender-Forschung das Geschlechterverhältnis diskutiert. Und man verrät kein Geheimnis, wenn man sagt, dass diese Vorstellung von der «disziplinären Erzeugung der Geschlechtszugehörigkeit» wesentlich auf den Einfluss Judith Butlers zurückgeht. So fasst beispielsweise die Basler Gender-Professorin Andrea Maihofer die «Annahme des Geschlechtes», das heisst der Umstand, dass sich ein Mensch mit «seinem» Geschlecht identifiziert, als Effekt «disziplinierender Vereindeutigungs- und Vereigenschaftlichungs-Prozesse» auf, in dessen Verlauf Mädchen und Jungen lernen, mittels gesellschaftlich zur Verfügung gestellter Gefühlsmuster und Körperpraxen ihr Geschlecht überzeugend darzustellen. Die Fokussierung auf Geschlecht als einem «zentralen gesellschaftlichen Herrschaftsprinzip» mutiert hier unter der Hand zur Frage der «Annahme des Geschlechts» und diese wiederum zu einer Frage der Identifikation mit normativen Vorlagen. Aber macht es überhaupt Sinn, die Geschlechterhierarchie als eine Frage der «Annahme von Geschlecht» zu problematisieren? Und ebenso umgekehrt gefragt: Wird diese «Annahme» auch tatsächlich unterwandert, wenn lediglich deren sichtbare Insignien - Verhalten, Gestik, Bild - kritisiert und allenfalls ausgetauscht werden? Gewiss: Es gäbe keine geschlechtlichen Hierarchisierungen, wenn es keine Geschlechter mehr gäbe. Aber heisst dies nicht, die Eselin beim Schwanz aufzuzäumen?
Es stellt sich deshalb die Frage, ob nicht im Zuge der Rezeption der Werke Judith Butlers ein grosser Reduktionismus in das gesellschaftstheoretische Verständnis der Gender-Studies Einzug hielt. Denn die Vorstellung von der geschlechtlichen Subjektwerdung als einem Akt der - um im Wortlaut Judith Butlers zu bleiben - «disziplinären Heranzüchtung» erscheint angesichts der grossen Integrationskraft spätkapitalistischer Gesellschaften irgendwie anachronistisch und kaum geeignet, deren Funktionsmechanismen adäquat zu erfassen. Und es ist schwer verständlich, wieso ausgerechnet jene Generation von Forscherinnen, die vermutlich als erste gerade nicht mehr mit ernst zu nehmenden normativen Vorgaben darüber, wie sie als Frauen zu sein hätten, konfrontiert sind, sich auf eine Theorie stützt, deren Formulierungen über weite Strecken eher den Papst als Gegenüber zu haben scheinen als eine Gesellschaft des 21. Jahrhunderts. Könnte es sein, dass die Gender-Theorie sich heute in einer ganz ähnlichen Lage befindet wie einstmals die Bewegung der sexuellen Revolution, deren Annahme, die Macht des Kapitalismus operiere wesentlich über die Unterdrückung der Sexualität, sich rückwirkend als sträflicher Irrtum erwies?
Selbstführung statt Herrschaft
Das Geschlecht als Disziplin, von der wir uns losmachen müssen: Und wenn es die List der Macht selbst wäre, die uns dies glauben macht? Michel Foucaults Vermutung, dass die Macht sich in ihrer tatsächlichen Wirkungsweise kaschiert, müsste hier längst misstrauisch machen. Und obwohl Foucault der Gender-Theorie in ihrer Kritik an Identitäten als wichtigster Referenzpunkt dient, wird völlig ignoriert, dass Foucault selbst diese in seinem Spätwerk gerade nicht mehr auf die Kraft normativer Vorgaben zurückführte, sondern das Zusammenspiel von Individuum und Macht grundsätzlich anders zu denken begann.
Merkwürdigerweise werden diese unter dem Namen «Gouvernementalitätsstudien» zunächst in Amerika bekannt gewordenen Ansätze von den Gender-Studies kaum zur Kenntnis genommen. Foucault prägte den Begriff Gouvernementalität im Zusammenhang mit einer grundlegenden Erweiterung seiner Machtanalytik, wie er sie ab Ende der siebziger Jahre in seinen Vorlesungen zu entwickeln begann. Zwar ist es richtig, dass auch er zunächst, um die von ihm so bezeichnete «Produktivität der Macht» zu erfassen, der Vorstellung reiner Repressivität jene «Disziplinarmacht» gegenüberstellte, von der sich die Gender-Studies im Wesentlichen inspirieren liessen. Doch führte ihn seine Beschäftigung mit dem Liberalismus zur Überzeugung, dass die Machttechnologien spätkapitalistischer Gesellschaften gerade nicht mehr über klare Vorgaben operieren. In seiner dritten und letzten Schaffensperiode konzentriert sich Foucault stattdessen auf das, was er nun das Regierungshandeln nennt: eine Weise der Führung der Menschen, die diese nicht primär zwingt oder einschränkt, sondern die deren Freiheit zu ihrer wichtigsten Ressource nimmt.
«Im Rahmen neoliberaler Gouvernementalität», schreibt Thomas Lemke, «signalisieren Selbstbestimmung, Verantwortung und Wahlfreiheit nicht die Grenzen des Regierungshandelns, sondern sind selbst ein Instrument und Vehikel, um das Verhältnis der Subjekte zu sich selbst und zu den andern zu verändern.» Lemke, einer der ersten Gouvernementalitätstheoretiker des deutschsprachigen Raumes, weist deshalb zu Recht darauf hin, dass Foucaults Konzentration auf Fragen des Subjekts in diesem Zusammenhang zu sehen und nicht etwa, wie oft behauptet, einem neu erwachenden Interesse an Ethik zuzuschreiben ist: Anstatt die «Machtverhältnisse» von den «Herrschaftstechniken» aus zu betrachten, wollte Foucault diese nun ausgehend von dem untersuchen, was er jetzt die «Selbsttechniken» nennt: «Man muss die Punkte analysieren», schreibt er, «an denen die Herrschaftstechniken über Individuen sich der Prozesse bedienen, in denen das Individuum auf sich selbst einwirkt. Und umgekehrt muss man jene Punkte betrachten, in denen die Selbsttechnologien in Zwangs- oder Herrschaftsstrukturen integriert werden. Der Kontaktpunkt, an dem die Form der Lenkung der Individuen durch andere mit der Weise ihrer Selbstführung verkoppelt ist, kann nach meiner Auffassung Regierung genannt werden.»
Regierung als Führen der Führungen: Mit diesem Doppelsinn des Wortes Regieren als Anführen und Sichverhalten zugleich hat Foucault also eine Machtform vor Augen, deren Subjektivierungsweise nicht auf klar fassbare Identitäten abstellt, sondern umgekehrt die Menschen gerade dazu befähigen will, sich in einem offenen Feld von Möglichkeiten stets neu und anders zu verhalten. Nicht die Anpassung oder Normierung, sondern die Verführung durch einen in Aussicht gestellten Raum unendlicher Möglichkeiten scheint hier das machtintegrierende Moment zu sein. Es lässt die Menschen die Anpassung an fortwährend drohende Gefahren als Herausforderung, die Zumutung beständiger Selbstmodulation als Selbstverwirklichung erfahren. Eine Verführung durch den Plural und eine Machttechnologie, die weitgehende Akzeptanz zu schaffen vermag: Läge es nicht näher, wenn schon, nicht die Norm, sondern allenfalls deren Kontingenz, deren Diffusität und Offenheit als das zu betrachten, was uns heute zu schaffen macht? Denn wenn, wie Foucault zu Recht vermutet, die Rationalität moderner Machtstrukturen auf der Gleichzeitigkeit von Individualisierungs- und Totalisierungsverfahren beruht, wenn mit andern Worten gerade das Individuelle machtintegrierend wirkt, dann ist die Kritik an normativen Zuschreibungen ein ebenso ohnmächtiges Instrument wie die im Namen der Individualität erhobene Forderung nach unendlicher Pluralisierung, zum Beispiel geschlechtlicher Identitäten.
Neoliberaler Karneval der Identitäten
Es stellt sich deshalb überhaupt die Frage, ob das dem Gender-Ansatz eigene Verständnis von Identitätskritik - die Konzentration auf die dem Bewusstsein zugänglichen Verhaltens- oder Erscheinungsweisen, auf Zuschreibungen und Bilder - nicht einen ganzen Bereich ausblendet, den die Psychoanalyse das unbewusste Begehren nennt. Aus psychoanalytischer Perspektive nämlich hat Macht über uns nicht so sehr das, was uns sichtbar einschränkt, sondern das, was unsere unsichtbaren Wünsche und Begehrlichkeiten zu formen vermag. Und dieser Bereich wird nicht notwendig von Veränderungen auf der Ebene der Normativität berührt, und die Aufhebung bewusst erlebter Einschränkungen vermag hier oft wenig zu bewirken. Es scheint, als folge die Gender-Theorie mit ihrer Kritik an normativen Repräsentanzen Butler in ihrem schwächsten Punkt. Denn psychoanalytisch gesehen, befindet sie sich damit auf der Ebene des Imaginären, der Wunschbilder also, auf der sich eben sehr viel ändern kann, ohne dass dies auch nur den geringsten Einfluss auf unsere unbewussten Einbindungen und Verstrickungen hätte. Das Unbewusste ist nicht einfach eine Kopie normativer Vorlagen, auf die Butler das Begehren letztlich auch in ihren jüngsten Werken reduziert. Es mag sich nämlich an den offen zutage tretenden Identitäten und Verhaltensweisen alles Mögliche wandeln - die heimlichen Vorlieben, jene privilegierten Orte, die in meinem Empfinden mir einzig Wert und Anerkennung zu geben vermögen, bleiben davon weitgehend unberührt. Und erst recht scheint die gesellschaftliche Organisation bestimmter Zuständigkeiten sich um solche Veränderungen nicht gross zu kümmern: Die Vielfalt der - sich teilweise geradezu ausschliessenden - Bilder von der «guten Mutter» beispielsweise, die nur schon die letzten hundertfünfzig Jahre uns bescherten, ohne dass sich Wesentliches an ihrer alleinigen Zuständigkeit für die Kinderpflege geändert hätte, lässt an der Relevanz von Bildern zweifeln. Doch allenfalls erhellt sich daraus die Attraktivität des Konzepts von Gender: Wäre es die Hoffnung, als Norm möge sich das Geschlechterverhältnis doch noch als handhabbar erweisen? Doch offensichtlich ist dies eine Unterschätzung der Mechanismen, die hier am Werke sind.
Anstatt deshalb am neoliberalen Karneval der Identitäten teilzunehmen, täten die Gender-Studies besser daran, auf das diesem Treiben zugrunde liegende Subjektkonzept zu achten. Hier nämlich setzt sich kaum verhohlen ein altes Allmachtsideal durch, für dessen «Abfall» traditionellerweise schon immer Frauen zuständig waren: Sie sind es, die heute die Reste der flexibilisierten Familie zusammenhalten und die globalisierten Kinder trösten, wenn diese nach dem zehnten Umzug die Sprache im neuen Kindergarten wieder nicht verstehen. Und sie waren es schon immer, die in einer zunehmend ungastlichen Welt für den sozialen Kitt und oft auch schlicht fürs blanke Überleben sorgten. Dass sich das Leben in dieser Weise deregulieren lasse, ist eine Allmachtsphantasie; aber die Kosten, die bei der Aufrechterhaltung dieses Phantasmas von der totalen Verfügbarkeit - diesem Autonomieideal mit seiner Verleugnung und Verachtung von Abhängigkeit, Bezogenheit und Verletzbarkeit - anfallen, diese Kosten werden nicht von beiden Geschlechtern gleichermassen getragen. Und diese Asymmetrie verwischt die Rede vom sozialen Konstrukt, die beide Geschlechter gleichermassen adressiert.
Für eine Kritik dieses abendländischen Subjektmodells, dessen Geschlechterasymmetrie allen Unkenrufen zum Trotz Bestand hat, genügt die Beschwörung der «sexuellen Differenz» als der «unabschliessbaren Frage» schlechthin, wie die Philosophin Astrid Deuber-Mankowsky, Philosophin und Kulturwissenschaftlerin, in Anlehnung an Butler uns nahe legt, nicht. Das ist nicht Sand ins Getriebe des Patriarchats, sondern Sand in die Augen der letzten noch verbleibenden Feministinnen gestreut. Sind die noch zeitgemäss, fragt Andrea Maihofer. Vielleicht sind sie das nicht - im besten Sinne.

Die Autorin:Tove Soiland ist Historikerin mit Schwerpunkt feministische Theorie und arbeitet in der feministischen Erwachsenenbildung.

Literatur:
Butler, Judith: «Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung». Frankfurt a. M. 2001.
Butler, Judith: «Antigones Verlangen. Verwandtschaft zwischen Leben und Tod». Frankfurt a. M. 2001.
Foucault, Michel: «About the Beginning of the Hermeneutics of the Self. Two Lectures at Dartmouth». In: «Political Theory», Vol. 21 (1993), No. 2. London / New Delhi.
Lemke, Thomas / Krasmann, Susanne / Bröckling, Ulrich: «Gouvernementalität, Neoliberalismus und Selbsttechnologie. Eine Einleitung». In: Dies. (Hrsg.): «Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen». Frankfurt a. M. 2000.
Maihofer, Andrea: «Von der Frauen- zur Geschlechterforschung: Ein Schritt zurück?» In: Oliver Brüchert / Christine Resch (Hrsg.): «Herrschaft und Befreiung. Kulturelle, politische und wissenschaftliche Strategien». Münster 2002.
Strunk, Marion (Hrsg.): «Gender Games». Konkursbuch 39. Tübingen 2002.
Deuber-Mankowsky, Astrid: «Geschlecht als philosophische Kategorie». In: «Die Philosophin», Nr. 23, Mai 2001.

Klar Offline



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23.02.2009 10:43
#15 RE: feministisch-systemische Arbeitsgruppe Antworten

liebe kollegInnen,
der termin für unser nächstes treffen ist

dienstag, der 31. märz,

wie immer um 18.30 in der praterstraße.

protokoll 11. februar 2009

beim letzten treffen waren anwesend: sabine kirschenhofer, michaela mühl,
marion herbert und verena kuttenreiter

wir haben auf sabines vorschlag hin den artikel "straight therapists
working with lesbians and gays in family therapy" (auf englisch!) vorher
gelesen und dann diskutiert. wobei wir einhellig der meinung waren, dass
die autorin, anne c. bernstein, viele punkte, an die frau/man als
heterosexuelle therapeutin nicht denkt, gut herausgearbeitet hat.

bernstein weist darauf hin, dass wir sogar als lesbische oder schwule
therapeutInnen und erst recht als heterosexuelle therapeutInnen in einer
homophoben gesellschaft der homophobie nicht entkommen können. sie
schreibt u. a. über gründe, warum sich lesbische oder schwule paare für
heterosexuelle therapeutInnen entscheiden könnten und wir diskutierten
anhand ihrer darstellung länger die frage der transparenz der eigenen
sexuellen ausrichtung (die für viele schwule/lesbische paare eine rolle
spielt bei der wahl der therapeutIn).

wichtig auch ihr hinweis, dass wir uns als heterosexuelle therapeutInnen
nicht nur neugierig von unseren schwulen/lesbischen klientInnen über ihre
lebenswelt berichten lassen sollten, sondern uns auch selbst informieren
sollten, wenn wir mit lesbischen/schwulen klientInnen arbeiten.

nachdem marion angemerkt hat, dass homosexualität und sado-masochismus
noch im icd-9 als störung klassifiziert waren (hab ich das richtig in
erinnerung?) sind wir dann für einige zeit zu sado-masochistischen
beziehungen abgedriftet. einige von uns lernten den begriff 24/7 kennen
und mit der äußerung, "dass es mich nicht wundert, dass sadomasochismus
als störung klassifiziert wird in einem system, wo auch tics (ich kann
jetzt ergänzen: oder stottern, oder fetischismus, voyeurismus und und und
...) als störung klassifiziert werden" katapultierte ich mich ins eck
völlig danebener, rückständiger störungsfuzzis und ich erntete einige
sager, die ich jetzt lieber nicht zitieren möchte.
habe übrigens gerade nachgeschaut: sadomasochismus ist immer noch (also
auch im icd-10) als störung klassifiziert. zitat: "gering ausgeprägte
sadomasochistische stimulation kommt zur steigerung einer im übrigen
normalen sexualität häufig vor. diese diagnostische kategorie soll nur
verwendet werden, wenn die sm betätigungen die hauptsächliche quelle der
erregung oder für die sexuelle befriedigung unerlässlich sind".

habe anlässlich dieser diskussion als vorschlag für das nächste treffen
einen schönen text gefunden von jessica benjamin mit dem titel "herrschaft
- knechtschaft: die phantasie von der erotischen unterwerfung".
analytisch, angenehm zu lesen, hoffentlich kontroversiell und natürlich
mit bezug auf das geschlechterverhältnis.
ich werde den text kopieren und in meinem fach im sekretariat vom ief
hinterlegen.

hoffe wir sehen uns, so long
verena


SK Offline



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11.05.2009 13:51
#16 RE: feministisch-systemische Arbeitsgruppe Antworten

Liebe Kolleginnen,

unser naechstes Treffen findet am Mittwoch den 13. Mai um 18:30 (wie
immer am IEF, Praterstr. 40) statt; ev. stellt Michi noch einen Text
zur Diskussion zur Verfuegung - vorerst ist aber noch von offenem
Programm auszugehen.

Als Protokollbeauftragte vom letzten Mal vom 31.3.2009 hab ichs wieder
mal verabsaeumt, es gleich zu schreiben und nun kann ich leider nur mehr
fragmentarische Stichworte rekapitulieren: Wir lasen und diskutierten
Jessica Benjamins Artikel "Herrschaft - Knechtschaft: Die Phantasie von
der erotischen Unterwerfung", der absolut spannend war/ist.
Einige von Benjamins Thesen
> Die Phantasie von der erotischen Gewalt zieht sich durch die gesamte
sexuelle Symbolwelt
> Diese Phantasien sind auch unter der Oberfläche 'normaler'
Liebesbeziehungen zwischen Erwachsenen aktiv.
> In der Phantasie von der erotischen Unterwerfung drueckt sich der
Wunsch nach Unaebhaengigkeit und gleichzeitiger Anerkennung durch
den anderen aus.
Im folgenden analysiert Benjamin die Geschichte der O indem sie Hegels
Herrschafts-Knechtschafts-Analyse und deren Anwendung auf die Erotik
durch Geore Bataille heranzieht.
Ein sehr schoenes Zitat: "Das Selbst, das stark genug ist, sich nicht nur
ueber die Verschiedenheit von anderen, sondern auch ueber die
Gemeinsamkeit mit diesen zu definieren, ist auch faehig, andere als
Subjekte anzuerkennen. Dieses Selbst vermag sich abzugrenzen, ohne
dazu andere zum Objekt machen zu muessen."

Mit feministischen Gruessen,

Sabine Kirschenhofer


SK Offline



Beiträge: 3

29.09.2009 13:09
#17 RE: feministisch-systemische Arbeitsgruppe Antworten

Liebe Kolleginnen,
vorweg gleich das Wichtigste: Der nächste Termin findet am 25. November
um 18:30 (wie immer im IEF, Praterstr. 40/10) statt.
Zum letzten Treffen am 22. September ganz kurz: In der ersten Halbzeit
diskutierten wir auf der Basis von Hedis Zeitungsartikelsammlung das
Thema Schönheit und unsere KlientInnen (z.B. das Hineinwirken von
Schönheitsidealen in unseren Therapien; Erfahrungswerte mit
Essstörungen; was "schöne" und nicht so schöne Menschen mit uns als
TherapeutInnen machen und wie wir TherapeutInnen möglicherweise auch in
unserer Körperlichkeit wirken und was wir vermitteln durch unser
Äußeres/Kleidungsstile). In der zweiten Halbzeit widmeten wir uns
einer sehr spannenden Sequenzanalyse, mehr wird nicht verraten, das ist
das Schicksal der zum Treffen Verhinderten :-) !
Mit feministischen Grüßen und ich freu mich auf unser nächstes Treffen,
dann schon bei Nacht und Nebel!
Sabine


sabine Offline



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07.06.2010 10:46
#18 RE: feministisch-systemische Arbeitsgruppe Antworten

Aus dem Logbuch der feministisch-systemischen Arbeitsgruppe

Virginie Despentes, sexuelle Gewalt, Prostitution – und mittendrin die Psychotherapie

In den letzten Sitzungen der Arbeitsgruppe haben wir uns insbesondere mit Virginie Despentes Essay King Kong Theorie auseinandergesetzt. Diese feministische Autorin, die vor allem für die Romanverfilmung Baise-moi bekannt ist, hat uns mit ihren teilweise sehr kontroversen Aussagen reichlich Diskussionsstoff gegeben.
Virginie Despentes spricht in diesem Essay einerseits das „Fantasma der Vergewaltigung“ an, einen Machtmechanismus unserer Gesellschaft, der Frauen vor ein unlösbares Dilemma stellt: Einerseits ist Vergewaltigung eine realistische und als Fantasma zudem stets präsente Bedrohung. Andererseits ist es jenes Verbrechen, von dem man sich nicht erholen darf, das man nicht hinter sich lassen darf. Vergewaltigung verurteilt nicht nur den Täter sondern auch das Opfer. Um das Dilemma noch zu verstärken, werden, wie Despentes argumentiert, Mädchen zur Wehrlosigkeit trainiert. Sie spricht ihre eigene mehr psychologische als physische Unfähigkeit sich zu wehren an, die sie bei einer erlebten Vergewaltigung verspürt hat, und meint, dass Frauen unbewusst eingeprägt werde, dass selbst eine Vergewaltigung sie nicht dazu berechtige, ihrerseits einem Mann Gewalt zuzufügen.
In der Arbeitsgruppe haben wir dies als Ausgangspunkt genommen, um über erlebte und uns berichtete mehr oder weniger bedrohliche Übergriffe zu reden. Auch wenn dabei längst nicht jedes Mal Hilflosigkeit die Reaktion war, ist diese Hilflosigkeit beziehungsweise Handlungsunfähigkeit als Bedrohung erkannt worden – oder zumindest die Angst vor dieser Handlungsunfähigkeit. Auffallend war auch, dass Handlungsunfähigkeit relativ direkt mit Schuldgefühlen verbunden wurde.
Virginie Despentes propagiert in ihrem Essay außerdem einen differenzierteren Blick auf die Prostitution. Sie lehnt Haltungen ab, die Prostituierte als Opfer darstellen und argumentiert, dass Prostitution grundsätzlich ein Beruf wie jeder andere sein könnte, wenn nur die Arbeitsbedingungen und die rechtliche Situation verbessert würde. Interessant war hierbei, dass ihrer Erfahrung nach nicht der körperliche Kontakt belastend war sondern im Gegenteil die emotionale Bindung zu den Klienten – umso mehr, wenn diese ihr sympathisch waren. In der Arbeitsgruppe haben wir diese emotionale Belastung als den sozusagen psychotherapeutischen Aspekt ihrer Arbeit bezeichnet.
Daraus hat sich die vielleicht spannendste Diskussion um Virginie Despentes ergeben. Wir haben uns gefragt, inwiefern Psychotherapie nicht ohnehin bereits eine Form der Prostitution ist. Der_die Psychotherapeut_in stellt sich und seine_ihre Emotionen dem_der Klient_in zur Verfügung.
Es stellte sich uns die Frage, wo wir unsere Grenzen ziehen. Wieso kommt körperlicher Kontakt für viele nicht in Frage, wenn diese sich gleichzeitig geistig/emotional derart auf das Gegenüber einlassen können? Wenn körperlicher Kontakt tatsächlich noch mehr Intimität bedeutet, warum können sich viele andere wie zum Beispiel Despentes von dem Einen abgrenzen, von dem Anderen aber nicht? Bedeutet Abgrenzung (egal ob in der Psychotherapie oder in der Prostitution) auch immer in gewissen Maßen ein Dissoziieren?
Wir haben eingehend über eine Grazer Initiative geredet, sogenannte "Sexualbegleiter_innen" für geistig oder körperlich Behinderte auszubilden. Diese Sexualbegleiter_innen dürfen ihren Beruf nur nebenberuflich ausführen, um nicht in finanzielle Abhängigkeit zu geraten. Schleimhautkontakt ist tabu.
Unsere Gefühle gegenüber dieser Institution waren gemischt. Einerseits wurde darüber geredet, dass die Sexualität von Behinderten/Verrückten ein zu lange verdrängtes Thema ist, das durchaus einer Initiative bedarf. Dann hat sich uns die Frage gestellt, ob es nicht fast sinnvoller wäre, diese Nische spezialisierten Prostituierten zu überlassen. Die Grazer Ausbildung barg für uns einige problematische Aspekte. Denn eine Abhängigkeit der Klient_innen besteht ja unabhängig von der finanziellen Abhängigkeit der Begleiter_innen. Wie sucht man diese Begleiter_innen aus, wie kann man eventuelle Missbraucher_innen aussieben? Was ist überhaupt deren Motivation, eine solche Arbeit anzunehmen? Wie kann man deren Arbeit kontrollieren? Wie wird mit der emotionalen Beziehung umgegangen, die unvermeidlich zwischen Begleiter_in und Klient_in entsteht? Wie können die Rollen klargestellt werden, gerade auch gegenüber geistig behinderten Klient_innen? Und warum macht man die Grenze gerade beim Schleimhautkontakt und nicht früher/später? Bedeutet ein Abbruch der Intimität an einer bestimmten (möglicherweise willkürlich erscheinenden) Stufe nicht ein mutwilliges Lock/Frust-Manöver?

Das hat uns natürlich wiederum zu der Frage zurück geführt, warum wir den physischen Kontakt hier als derart problematisch sehen, wo doch auf psychischer Ebene ebenfalls viel Macht und Missbrauch ausgeübt werden kann. Ebenso stellte sich die Frage, inwiefern die Psychotherapie mit dem Körper nicht einen wichtigen Punkt einfach ausblendet.
Körper, Sexualität, Gewalt, Abhängigkeiten und Machtmechanismen – die Psychotherapie steckt möglicherweise jetzt bereits mitten drin.

Elisabeth Klar für die feministisch-systemische Arbeitsgruppe

Bei Interesse mitzuwirken oder auch für Rückmeldungen zu diesem Text: E-mail an Sabine Kirschenhofer (kirschenhofer@tele2.at) oder telefonische Kontaktaufnahme unter 0664-505 31 19.

sabine Offline



Beiträge: 2

13.12.2010 17:49
#19 RE: feministisch-systemische Arbeitsgruppe Antworten

Liebe Kolleginnen,
diesmal habe ich mich gemeldet fürs Protokoll schreiben, mal sehen ob mir das gelingt.

Anwesend waren: Sabine Kirschenhofer, Verena Kuttenreiter, Elisabeth Klar, Hedi Wagner, Marion Herbert und Michi Mühl.

Wie vorgenommen, haben wir nochmals über den Text von Judith Butler diskutiert - also 1. kapitel aus "Das Unbehagen der Geschlechter", S. 15
- S. 32 unter Reflexion der Positionen von de Beauvoir und Irigaray auf die sie sich bezieht.
Die Diskussion war sehr spannend, Elisabeth war so freundlich und hat uns eine kurze und präzise Zusammenfassung der Positionen gegeben, so hat sie erklärt, dass Simone de Beauvoir und Luce Irigaray sich noch innerhalb des phallokratischen Weltbildes bewegen würden mit der Differenzierung und Bewertung von Subjekt und Objekt, während Judith Butler darüber hinaus gehe und postuliere, dass es einen Körper gibt, aber unsere Identität, auch die Geschlechteridentität würden wir nicht besitzen, sondern sie performen, Gender als "Ritual" - eine identität, die getan wird, aber nicht ist. Diskutiert wurde dann darüber, ob es überhaupt Sinn macht, sich auf so theoretisch hohen Niveau auseinanderzusetzen ("ist doch auch wieder eine männliche Form der Auseinandersetzung" vs "das brauchen wir uns deshalb nicht nehmen lassen"), bzw. auch wegen Umsetzbarkeit in der Praxis ("Butler für Dummies?" - Dazu bald mehr von einer Bekannten/Freundin Marions, die uns mal besuchen wird) . Andererseits hat gerade diese wissenschaftliche Auseinandersetzung auch dazu beigetragen, dass viel in Gang gebracht wurde (Veränderung bottom up oder top down? - Conclusio war glaub ich, dass beides nötig ist). Butler scheint jedenfalls durchaus Revolutionäres im Sinn zu haben, wenn man ihre öffentlichen Auftritte sieht und durch ihre Postion als anerkannte Wissenschafterin wird sie auch ernst genommen...

Ein Vorschlag Elisabeths war, dass wir uns auch einmal etwas leichter lesbarere Texte von Butler vornehmen könnten. Ich weiß aber nicht mehr, ob wir uns auf etwas für nächstes Mal geeinigt haben, ich fürchte nein und hoffe da auf Korrektur/bzw. Vorschläge eurerseits.

Termin für nächstes Mal ist Freitag, 18.02.2011 um 19 Uhr - Freitag ist doch für viele angenehmer, es läßt sich nachher auch ganz gut trinken gehen, was ein paar von uns gleich gemacht haben.

Ich wünsche euch allen schöne Feiertage und einen guten Jahresabschluss und Neubeginn!
Liebe Grüße,
Michi

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