Anbei ein Interview mit dem Hochschulprofessor Marius Reiser, der sich weigerte, die Bologna-Regelungen zu übernehmen und deshalb auch sein Amt zurückgelegt hat (Henry Vorpagel hat dieses Interview entdeckt und an mich geschickt). Es geht wieder mal um diverse gesellschaftlich geförderte Verdummungsprozesse. SK
DERSTANDARD.AT-INTERVIEW
"Dafür kann kein gebildeter Mensch sein"
17. Juni 2009, 13:40
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Marius Reiser: "Gerade Intellektuelle hätten weiterdenken müssen."
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Der Theologe Marius Reiser erklärt, warum er wegen des Bolognasystems seine Professur an
der Uni Mainz zurückgelegt hat
Vor zehn Jahren haben Bildungsminister beschlossen, die Hochschulen in Europa
vergleichbar zu machen und das Bologna-System einzuführen. Marius Reiser, einst
Theologie-Professor an der Universität Mainz, hat kürzlich seine Professur aus Protest
gegen Bologna zurückgelegt. Im derStandard.at-Interview kritisert er seine KollegInnen
an den Unis, beklagt den "Verlust der akademischen Freiheit" sowie die
Selbstständigkeit, die seit Bologna unter den Studierenden verloren gegangen sei. Die
Fragen stellte Katrin Burgstaller.
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derStandard.at: Sie haben Ihre Professur zurückgelegt. Ist das definitiv oder haben Sie
ein Rückkehrrecht?
Reiser: Ich bin aus dem Beamtenverhältnis entlassen. Der Lehrstuhl wird neu
ausgeschrieben.
derStandard.at: War es leicht, diese Entscheidung zu treffen?
Reiser: Ich habe von Anfang an erklärt, dass ich Bologna nicht mittragen werde, aber
doch drei Jahre mit der Entscheidung gerungen, meine Professur niederzulegen. Seit
dem laufenden Sommersemester müsste ich mich auch an unserer Fakultät in einem
Bologna-Studiengang beteiligen. Da wollte ich nicht mitmachen und deshalb bin ich jetzt
gegangen.
derStandard.at: Bologna ist ja schon länger im Gespräch. 1999 haben die EUBildungsminister
beschlossen, das Bologna-System einzuführen. Waren die radikalen
Veränderungen für die Unis damals nicht absehbar?
Reiser: Eigentlich nicht. Bei uns in Deutschland hätte alles beim Alten bleiben können.
Von Bachelor und Master war in der Bologna-Erklärung, die übrigens keinerlei
völkerrechtliche Verbindlichkeit hat, keine Rede. Auch von der Modularisierung ist darin
keine Rede. Man sieht ja auch, dass es in der Umsetzung europaweit Unterschiede gibt.
Im übrigen habe ich mich um Universitätspolitik nie gekümmert. Ich habe mich überhaupt
um Politik nicht gekümmert.
derStandard.at: Gehört es nicht zur Aufgabe eines Hochschullehrers, sich mit
Universitätspolitik zu beschäftigen?
Reiser: Inzwischen habe ich begriffen, dass das absolut notwendig wäre. Die
europäischen Großindustriellen haben schon 1995 die Linien für Bologna vorgegeben.
Sie haben Modularisierung, ständige Kontrolle und Quantifizierung der Leistungen
gefordert. Auch stärkere Kooperationen zwischen der Industrie und den Universitäten
wurden gefordert. Über die Hochschulräte haben Vertreter der Industrie inzwischen
einen starken Einfluss auf die Gestaltung der Universitäten.
derStandard.at: Wären die Hochschullehrer wachsamer gewesen, als Bologna
eingeführt wurde, hätte man dann etwas verändern können?
Reiser: Daran besteht kein Zweifel. Das ganze System hätte nicht eingeführt werden
können, wenn sich die Hochschullehrer gewehrt hätten. Meine Kollegen haben aber von
Anfang an gesagt, das ist Zwang von oben, man kann nichts dagegen machen und
lokaler Widerstand ist zwecklos. Tatsächlich wurde mit diktatorischen Maßnahmen in die
inneren Angelegenheiten der Universitäten eingegriffen. Man hat uns die akademische
Freiheit genommen, die uns sogar grundgesetzlich garantiert ist.
derStandard.at: Sie sind nicht der einzige Hochschullehrer, der am Bolognasystem
grobe Mängel feststellt. Trotzdem melden sich dazu wenige zu Wort. Ist das nicht ein
Armutszeugnis?
Reiser: Doch, das ist ein Armutszeugnis, das kann man wohl kaum anders nennen. Und
es ist nicht nur ein Armutszeugnis, sondern auch ein Zeichen von
Verantwortungslosigkeit. Die Hochschullehrer verzichten ja nicht nur auf ihre eigene
Freiheit, sondern auch auf die Freiheit der Studierenden. Sie haben den Studierenden
ein Joch auferlegt, indem sie das System akzeptiert haben. Gerade Intellektuelle hätten
weiterdenken müssen. Ich kann es verstehen, dass sie nicht einen solchen Schritt wie
ich gewählt haben. Aber sie hätten die normalen Mittel des Widerstandes wählen
müssen.
derStandard.at: Die Professoren sollten die Jungen doch eigentlich zum kritischen
Denken anregen und beispielhaft agieren.
Reiser: Sie denken ja kritisch. Reden können die Professoren schön. Schon in der Bibel
heißt es: Haltet euch an das was sie sagen, aber nehmt euch nicht zum Vorbild, was sie
tun (Matthäus 23,3).
derStandard.at: Ist es jetzt zu spät für den Protest?
Reiser: Zu spät ist gar nichts. Ab 2010 sollen die Studiengänge wieder neu akkreditiert
werden. Da müsste man sich weigern. Die Akkreditierungsfirmen sind nicht demokratisch
legitimiert. Außeruniversitäre Privatvereine machen uns in Deutschland Vorschriften über
die inneren Strukturen des Studiums und verlangen pro Akkreditierung eines
Studiengangs 10.000- 15.000 Euro. So etwas Absurdes hat es in 800 Jahren nicht
gegeben. Dazu könnten wir jederzeit nein sagen.
derStandard.at: Was sind die größten Unterschiede zwischen AbsolventInnen vor und
AbsolventInnen nach Bologna?
Reiser: Der entscheidende Unterschied ist die Selbstständigkeit. Im früheren System
war es das Ziel, die StudentInnen zum selbstständigen Arbeiten und Denken zu
erziehen. Die Voraussetzung dafür ist eine gewisse akademische Freiheit. Selbstständig
werden kann man ja nur, indem man Selbstständigkeit ausübt. Genau das soll gemäß
Bologna nicht vermittelt werden. Es geht weiter wie in der Schule, man soll Stoff pauken.
Die Studenten können über ihre Zeit nicht mehr selbst verfügen, da in den meisten
Lehrveranstaltungen Anwesenheitspflicht besteht. Und: Seminararbeiten werden jetzt in
der Regel in 14 Tagen abgehandelt, weil sie noch innerhalb des Semesters abgegeben
werden müssen. Eine ernsthafte Heranführung an die Wissenschaft ist so nicht möglich.
derStandard.at: Wer könnte sich dafür interessieren, weniger selbstständige
AbsolventInnen hervorzubringen?
Reiser: Hauptsächlich die Industrie scheint sich für gut ausgebildete, anpassungsfähige
Leute und nicht selbstständig wirkende Persönlichkeiten zu interessieren.
derStandard.at: Wie kann es sein, dass sich Hochschullehrer, die sich im alten System
etabliert haben, so einfach in das Bologna-System transferieren lassen?
Reiser: Wenn der Senat und der Präsident das Bolognasystem akzeptiert haben, hat der
einzelne Hochschullehrer nicht mehr die Freiheit, dagegen zu sein. Deshalb blieb auch
mir nur die Möglichkeit des Ausscheidens. Was einem Hochschullehrer passiert, der
einfach nicht mitmacht, das wissen wir noch nicht.
derStandard.at: Ein Argument für Bologna ist die Vergleichbarkeit der europäischen
Hochschulen ...
Reiser: Die ist illusionär. Das ECTS-Punktesystem bewertet die reine Arbeitszeit. Das ist
eine Abstraktion, die in sich sinnlos ist. Die ECTS-Punkte werden ausserdem ganz
willkürlich verteilt. Vergleichbarkeit und Mobilität haben sich dadurch verschlechtert.
derStandard.at: Die Vergleichbarkeit will man auch in den Schulen erzielen. In
Österreich werden Bildungstandards und die Zentralmatura eingeführt.
Reiser: Das ist eine üble Gleichmacherei auf niedrigem Niveau. Im Jahr 1927 hat J. K.
Chesterton zur Hundertjahrfeier des University College London einen Vortrag über die
kommende große Gefahr für die Kultur gehalten. Diese Gefahr sah er in der
Standardisierung auf niedrigem Niveau. Genau das strebt man mit dem neuen System
bewusst an. An den Schulen und Universitäten wird alles auf ein Mittelmaß
hinuntergedrückt. Unterschiede in der Begabung werden kaum berücksichtigt und
Begabtenförderung spielt keine große Rolle. Dafür kann kein gebildeter Mensch sein.
(Katrin Burgstaller, derStandard.at, 17. Juni 2009)
Zur Person
Marius Reiser, Jg. 1954, studierte in Tübingen Katholische Theologie, Sinologie und Klassische
Philologie. Zuletzt war er Professor an der Johannes-Gutenberg Universität in Mainz