Sie sind vermutlich noch nicht im Forum angemeldet - Klicken Sie hier um sich kostenlos anzumelden Impressum 

Abgesehen von der den Menschen vor allen anderen Tieren auszeichnenden Eigenschaft des Selbstbewußtseins, welcher wegen er ein vernünftiges Tier ist..., so wird der Hang: sich dieses Vermögens zum Vernünfteln zu bedienen, nach gerade methodisch, und zwar bloß durch Begriffe zu vernünfteln, d.i. zu philosophieren; darauf sich auch polemisch mit seiner Philosophie an anderen zu reiben, d.i. zu disputieren, und, weil das nicht leicht ohne Affekt geschieht, zu Gunsten seiner Philosophie zu zanken, zuletzt in Massen gegen einander (Schule und Schule als Heer gegen Heer) vereint offen Krieg zu führen; – dieser Hang, sage ich, oder vielmehr Drang, wird als eine von den wohltätigen und weisen Veranstaltungen der Natur angesehen werden müssen, wodurch sie das große Unglück, lebendigen Leibes zu verfaulen, von den Menschen abzuwenden sucht.
Immanuel Kant

in diesem sinne:
willkommen im online forum therapy meets philosophy des iam

eine elementare einführung
bitte anschauen!!!

Sie können sich hier anmelden
Dieses Thema hat 1 Antworten
und wurde 642 mal aufgerufen
 systemische psychotherapie
Sabine Klar Offline



Beiträge: 20

05.02.2008 18:53
Neurobiologie Antworten

In den Netzwerken der ÖAS ist von J. Hinsch folgender Beitrag erschienen, den ich dankenswerterweise auch in unser Forum stellen darf. (SK)

Positionen zum Thema Gehirnforschung

Soll man sich um die Ergebnisse der Neurobiologie kümmern? – Joachim Hinsch

Die Ergebnisse der Neurobiologie sind beeindruckend. Das ist für mich keine Frage. Offen ist nur die Verwendung dieser Forschung in der Psychotherapie:
Soll man die „Bildgebenden Verfahren“, mit denen Veränderungen im Hirn unter experimentellen Bedingungen nachweisbar werden, zur Messung des Wertes der Psychotherapie nutzen und damit analog der akademischen Psychologie den Versuch wagen, Psychotherapie als Naturwissenschaft zu etablieren, damit auch das Wagnis eingehen, Psychotherapie in einen Vergleichskampf mit chemischen Verfahren zu hetzen? Diese Ideen haben sicherlich – auch wenn sie uns PsychotherapeutInnen den Boden unter den Füßen wegzögen – einige bestechende Argumente für sich, leiden aber an so schweren methodischen Mängeln und Vermischung logischer Ebenen, dass wir uns in absehbarer Zeit ohnehin nicht fürchten müssen. Die Hirnforschung kann streng genommen nur Beziehungen zwischen neurophysiologischen Parametern untersuchen, aber nicht erklären, warum aus neuronalen Erregungen Empfindungen oder Gedanken entstehen.
Aber es gibt einen anderen Aspekt, den wir SystemikerInnen seit Ciompi zunehmend beachten; dass Probleme nicht nur eine Folge bestimmter Kommunikationen und Geschichten sind, dass wir also nicht nur aus der Geschichte bestehen, die wir über uns erzählt bekommen und über uns erzählen. Ob wir es wollen oder nicht: Der Mensch ist auch – und das in einem sehr großen Maß - Tier. Unser Denken und Wahrnehmen ist nicht nur von den bewusstseinsfähigen Regionen des Hirns bestimmt, sondern unter anderem auch von Stammhirn, Hypothalamus und limbischem System. Somit unterscheiden wir uns in wesentlichen Bereichen nicht sonderlich von den anderen Primaten. Und da gilt, wie Roth sagt, bei Primaten wie bei sämtlichen anderen Lebewesen:
„Primär hat ein Nervensystem keine andere Aufgabe, als alle Veränderungen der äußeren Welt, die zu Störungen der inneren Ordnung des Organismus führen, abzuwenden oder auszugleichen, Bedrohungen der inneren Ordnung immer frühzeitiger wahrzunehmen, Veränderungen der äußeren Welt immer besser abzuschätzen und immer spezifischer auf derartige Bedrohungen zu reagieren“. Dieses Nervensystem muss beim Menschen besonders gut ausgebildet sein, weil die Menschen bei der Verteilung ökologischer Nischen zu kurz gekommen sind, nehmen mussten, was übrig geblieben war - die Savanne. Diese Besonderheit führte zur unbedingten Notwendigkeit zu lernen, um überleben zu können: Sozialisation ist Lernen, und Lernen verändert das Hirn.
Die vor einiger Zeit entdeckte Neuroplastizität des Hirns, das Neuverzweigen der Nervenzellen durch Lernen/Handeln geht bis ins hohe Alter, endet nicht in der Kindheit. Das Hirn wächst, wenn der Mensch lernt, es verkümmert, wenn er nicht lernt. Daher gilt die Maxime: Lerne, was du nicht kannst (wenn du eher die rechte Hand bevorzugst, nimm auch die linke, wenn du eher emotional reagierst, versuche die Ratio einzuschalten und umgekehrt)! Lass liegen, worin du schon eine gewisse Meisterschaft besitzt, und wage dich an Neues! Ein kleines Beispiel hat mich von diesem Gedanken überzeugt: Nach einem Schlaganfall, der die rechte Hand lahm legt, wird nicht mehr versucht, die Kompetenz der linken Hand zu steigern, um so die Patientin zu rehabilitieren. Im Gegenteil wird die linke Hand auch noch lahm gelegt, wodurch die rechte Hand wieder aktiviert wird und sich infolge der Neuroplastizität des Hirns neue Verbindungen aufbauen. Wir haben Lernen immer viel zu viel als Wissenserwerb begriffen. Es lernt aber nicht nur der kognitive Apparat, nicht nur die bewusstseinsfähigen Regionen, die dünne Schicht der grauen Zellen der Hirnrinde, sondern das ganze Hirn. Alle Erfahrungen sind Lernprozesse unterschiedlichster Bereiche des Hirns. Dieses Erlernte bestimmt wiederum die Wahrnehmung und damit das Verhalten. Die nicht bewusstseinsfähigen Regionen lernen eben auch und signalisieren an den Cortex, was immer sie gelernt haben.

Wie Roth an anderer Stelle ausführt, erscheint dabei „das bewusst planende Ich als der Lenker: Ich fühle mich in meinen Entscheidungen frei, eingeschränkt höchstens durch Zeitdruck, Vorschriften und emotionale Erregung.“ Das Gefühl der bewussten Verhaltenssteuerung ist aber – laut Neurobiologie - eine Illusion, Verhalten werde durch Unbewusstes vorbereitet und festgelegt. Laut Roth sieht die Neurobiologie folgende Ideen als gesichert:
Die limbischen Zentren bewerten alles, was durch uns und mit uns geschieht: ob etwas bekannt, vorteilhaft, lustvoll, sinnvoll zu wiederholen oder unbekannt, schmerzhaft und zu vermeiden ist. Alle Handlungsentscheidungen werden im Licht vergangener emotionaler Erfahrungen getroffen. Neugier, Belohnungserwartung, Freude, Furcht, Abneigung bei bekannten Dingen, Vorsicht und Umsicht und der Befehl, etwas zu tun, was aufgrund früherer Erfahrungen sinnvoll erscheint, werden durch dieses Bewertungssystem erzeugt. Das Gehirn kann zwar über seine Sinnesorgane durch die Umwelt erregt werden, diese Erregungen enthalten jedoch keine bedeutungshaften und verlässlichen Informationen über die Umwelt. Die Wirklichkeit ist ein Konstrukt des Gehirns. Die Erfahrung, ein autonomes, subjektives Ich zu sein, beruht auf Konstrukten, die im Lauf unserer kulturellen Evolution entwickelt wurden. „Freie Entscheidungen“ seien demnach nachträgliche Begründungen von Zustandsänderungen, die ohnehin erfolgt wären.

Nach Hüther gingen Neurobiologen lange davon aus, dass ältere Bereiche des Hirns wie Stammhirn, Hypothalamus und limbisches System bei allen Primaten normalerweise immer gleichmäßig funktionieren. Über die „bildgebenden Verfahren“ wurde aber klar, dass diese Bereiche sich verändern, wenn Probanden ihre Aufmerksamkeit auf unterschiedliche Bereiche lenken oder sich frühere Erfahrungen bewusst in Erinnerung rufen. Aufmerksamkeit hat eine Vorerregung in den mit Aufmerksamkeit bedachten Feldern zur Folge. Das Bewusstsein spielt also eine große Rolle. Aber wo entsteht das Bewusstsein? Das stellt Wissenschaftler, wie Hüther ausführt, vor ein unlösbares Dilemma: denn man kann ja nicht subjektiv gesteuerte Prozesse objektivieren. Bewusstsein ist zwangsläufig das Ergebnis eines kognitiven Lernprozesses. (Das im Gehirn erzeugte Selbstmodell des „Ich“ lässt sich als eine Eigenrepräsentation verstehen, bei der die so generierte Vorstellung des „Ich“ als eigenständiges Objekt wahrgenommen wird). Bewusste Willensentscheidungen, Unterscheidungen, Wahrnehmungen und bewusstes Erleben der eigenen Identität sind, so Hüther, in hohem Ausmaß durch andere Personen beeinflussbar. Der Grad an Bewusstheit oder die Bewusstseinsstufe, die ein Mensch entwickeln kann, ist abhängig von dem Bewusstsein, das in der Welt der Erwachsenen herrscht, in die ein Kind hineinwächst. Bewusstsein ist daher eine Kulturleistung und der Ort, an dem das Bewusstsein entsteht, nicht das Hirn, sondern die Gesellschaft. Dieses Verständnis sei vergleichbar mit dem Entstehen der menschlichen Sprache. Zwar braucht es dafür bestimmte Zentren im Gehirn, aber das Verstehen entsteht dadurch, dass Eltern normalerweise mit ihren Kindern reden. Je nachdem, wie viel und wie komplex dieser verbale Austausch ist, werden auch die betreffenden Hirnregionen mehr oder weniger komplex herausgeformt.

Diese Ideen Hüthers lassen sich gut mit der Systemtheorie Luhmanns und den drei Systemen (organisches, kommunikatives, psychisches System) verbinden.
Das Bewusstsein in der Auffassung Hüthers entspräche dann dem psychischen System, wo Erleben und Gedanken aneinander anschließen. Das organische System wären hier bestimmte Hirnareale, die das Bewusstsein ermöglichen und Regionen des Hirns, die dieses Bewusstsein emotional färben. Kommunikationen, aus denen sich das kommunikative System ergibt, schließen an dominante und weniger dominante Diskurse und Umweltbedingungen an, auf die sich das Individuum bezieht. Die Gesellschaft liefert also quasi das Material, an das Kommunikationen anschließen können. Organisches und kommunikatives System verstören das Bewusstsein, das autonom auf diese Anstöße reagiert. Das Bewusstsein und damit die Aufmerksamkeit verstören wiederum das organische (das dann wieder neu lernt, neue synaptische Verbindungen herstellt) und das kommunikative System. Diese reagieren wiederum autopoietisch und verstören wiederum das psychische System, das Bewusstsein, usw. Hüther sagt also, dass die gesellschaftlichen Bedingungen - die Kultur - das Bewusstsein entsprechend den Möglichkeiten der betroffenen Hirnregionen konstituieren. Ein System kann dabei das andere nicht instruieren, sondern nur anstoßen. Das Bewusstsein reagiert dann entsprechend seiner Struktur, z.B. seiner Vorerfahrungen. Dasselbe gilt dann für die Beziehung zwischen Bewusstsein und Organismus.

PsychotherapeutInnen haben es mit diesem Bewusstsein zu tun: dem eigenen und dem ihrer KlientInnen. Dieses Bewusstsein verändert sich dann in Relation zur jeweiligen Umwelt, zur jeweiligen Interaktion, kann so wie Identität nicht als Entität sondern nur als relational verstanden werden, weil die jeweilige Interaktion die Aufmerksamkeit wiederum lenkt. Das Bewusstsein ist also in einer Sandwich-Position: hier die Bewertungen der Gesellschaft, des Kontextes, denen sich das Individuum anschließt, dort die nicht bewusstseinsfähigen Regionen, die ununterbrochen aufgrund der Erfahrungen, des Erlernten und der jeweiligen genetischen Ausstattung feuern. Aus dieser Sandwich-Position zwischen Gesellschaft und Organischem ergibt sich zwingend die Aufmerksamkeit auf ein bestimmtes Gefühl. Erst in einem weiteren Schritt kann die bewusste, willentliche Entscheidung fallen, die Aufmerksamkeit auf ein Gefühl zu richten, das auch der Situation entspricht aber andere Handlungsmöglichkeiten eröffnet. Ein banales Beispiel: Ich habe mir gerade einen Gebrauchtwagen gekauft, der bei der ersten Fahrt ins Ausland kaputt ging, die Dieselzufuhr war geplatzt. Das Diesel spritzte, das Elend war perfekt, besonders als sich herausstellte, dass die Ersatzteile nicht verfügbar waren. Ich fühlte mich als Opfer der Situation, des Verkäufers und der Werkstatt. Dieses Verstehen hätte jetzt meine Stimmung und den Urlaub verdorben. Die bewusste Entscheidung, mich gegen diese Opferhaltung zu wehren, ließ mich sehr schnell umdenken, mich wieder auf den Urlaub freuen und neue Möglichkeiten entdecken, das Auto irgendwie zu managen. Ich war erleichtert.
So können wir – manchmal nur mit Hilfe einer PsychotherapeutIn – unsere Aufmerksamkeit auf andere Gefühle lenken und damit den Gefühlen ihren zwingenden Charakter nehmen. Damit ist Willensfreiheit – zumindest in einem gewissen Ausmaße - wieder gegeben.

Die Neuroplastizität ermöglicht lebenslange Veränderungen der neuronalen Strukturen, Veränderungen im organischen System und damit Verstörung des psychischen Systems, des Erlebens. Also hilft es, neue Erfahrungen zu machen, den KlientInnen zu helfen, sich bei Ängsten und Traumata nicht für das Denken, Fühlen, Handeln des verletzten oder traumatisierten Kindes, seiner schmerzhaften Erfahrungen in der Vergangenheit - zu schämen, es nicht weiter abzulehnen sondern ihm – diesem Kind - durch sich selbst und andere Akzeptanz, Trost und Wärme zu geben. Dabei kann nur im kommunikativen System, also im Hier und Jetzt die Voraussetzung für neue Erfahrungen geschaffen werden, aber diese kann die alte Erfahrung eventuell erweitern, neue neuronale Verbindungen herstellen, wenn es auch heißt: die Amygdala vergisst nie.

Weitere Folgerungen für die Psychotherapie
• Wenn man in ein Problem verwickelt ist, beobachtet man hauptsächlich sein eigenes Denken. Hilfreich scheint es aber auch, nicht nur sein Denken sondern auch sein Verhalten zu beobachten (unabhängig von dem, was ich darüber denke, wie verhalte ich mich eigentlich) und die Körperhaltung, da das Verhalten weniger der Kontrolle des kognitiven Apparates unterliegt und stärker von den nicht bewusstseinsfähigen Regionen organisiert ist. Beobachtungsaufgaben könnten sich also ganz stark auf die Selbstbeobachtung des Verhaltens beziehen.
• Wenn Verbote von Eltern bei einem Kind nicht bewältigbare Angst auslösen, stellt es im weitesten Sinn für die Existenz dieses Kindes eine Gefahr dar, wenn ein Verbot aber neue Lernprozesse ermöglicht, ist es für die Weiterentwicklung, für das Initiieren von Lernprozessen hilfreich und wichtig.
• Wir können uns sinnvoller Weise immer nur um die Herstellung günstiger Randbedingungen für Veränderung bemühen, wie Ludewig betont. Diese günstigen Randbedingungen sollten aber in stärkerem Ausmaß, als wir es bisher gesehen haben, die leidvolle Geschichte der KlientIn berücksichtigen, akzeptieren, dass längst vergangene Erfahrungen noch immer für die KlientIn aktuell sind, das limbische System sich aus seinen Lernerfahrungen in die Bewertung des Jetzt kräftig einmischt. PsychotherapeutInnen sollten immer versuchen zu bedenken, unter welchem neuronal gesteuerten Einfluss das Bewusstsein der KlientIn steht.

Bücher und Artikel, auf die ich mich hier beziehe:
Fischer H R (2004) Neurobiologie und Psychotherapie - Lost in Translation? Ein kritischer Überblick zur neueren Literatur in Familiendynamik, Heft 4 Hirn – Psyche – Bewusstsein, Klett-Cotta Stuttgart, S. 363-403
Roth G (1994) Gehirn und Wirklichkeit. Frankfurt, Suhrkamp
Hüther G (2005) Bedienungsanleitung für ein menschliches Gehirn, Vandenhoek & Ruprecht, Göttingen
Hüther G (2006) Wo genau passiert es? Die vergebliche Suche der Hirnforscher nach der Region im menschlichen Gehirn, in der das Bewusstsein entsteht. In: die Drei, mercurial-publications, Frankfurt/Main, S 52-60
Ludewig K (2005) Einführung in die theoretischen Grundlagen der systemischen Therapie, Heidelberg, Carl Auer
Joachim Hinsch

Sabine Klar Offline



Beiträge: 20

05.02.2008 18:53
#2 RE: Neurobiologie Antworten

Antwort von Sabine Klar auf Joachims Beitrag

Joachim benennt hier, was er aus den Ergebnissen der Neurobiologie für die therapeutische Arbeit gewonnen hat. Vieles davon kann ich nachvollziehen, ja es freut mich sogar, dass nach all diesen Jahren der Fokussierung auf Sprachliches dem Biologischen und damit dem Körper und seinen Verarbeitungs- und Ausdrucksformen wieder mehr Aufmerksamkeit gegeben werden soll. Was mich ein wenig überrascht ist, dass es zu einem so späten Zeitpunkt geschieht – ich frage mich: Warum gerade jetzt? Was lässt dieses Interesse, das von der Erkenntnislage zumindest seit den 80er Jahren, wenn nicht schon viel früher, möglich gewesen wäre, zum jetzigen Zeitpunkt so faszinierend erscheinen? Soviel ich noch aus meinem Studium der Ethologie, das auch die Neuro- und Sinnesphysiologie einbezog weiß, hat sich am Grundverständnis neuronaler Verarbeitungsformen inhaltlich seitdem recht wenig verändert – was sich verbessert hat, sind u.a. die bildgebenden Verfahren. Man „sieht“ also genauer, wo und wann das Gehirn aktiv ist. Und das macht mich ein wenig misstrauisch. Wollen wir uns wieder „ein Bild machen“? Sind wir wieder auf der Suche nach „Objektivität“? Wollen wir wieder wissen, was „wirklich“ wirkt? Wollen es unsere Auftraggeber (z.B. der medizinische Kontext, die Krankenkassen) wieder wissen? Und was bedeutet das für den Freiraum der Psychotherapie innerhalb all des verbreiteten Geredes über „Funktionalität“?

Bevor ich dazu komme, möchte ich ein paar kurze Bemerkungen zum „menschlichen Tier“ machen. Als Ethologin teile ich Joachims Meinung natürlich: Menschen sind auch Tiere, keine Frage. Ich habe allerdings den Eindruck, dass sie aus der Sicht der Neurobiologie eher als „Gehirne“ erscheinen. Das „menschliche Viech“, so wie wir es in unserem IAM-Konzept (http://iam.or.at//) verstehen, ist weit mehr als bloß die diversen Stamm- und Mittelhirnbereiche, die unter der Rinde ihre subversiven Aktivitäten entfalten. Das „Viech“ ist eine Verarbeitungsdynamik, die sich in einem ganzen Körper vollzieht, der etwa auch vom endokrinen System massiv beeinflusst wird. Der Fokus auf die genannten Hirnbereiche ist einfach ein sehr reduktionistischer. Die zitierte Meinung von Roth, Menschen seien bei der Verteilung ökologischer Nischen zu kurz gekommen und hätten deshalb lernen müssen, empfinde ich aus ethologischer Sicht als sehr fragwürdig. Zum einen werden ökologische Nischen nicht verteilt, sie bleiben auch nicht übrig. Tiere versuchen unter bestimmten Gegebenheiten zu überleben und schaffen sich damit gleichzeitig auch die Gegebenheiten, unter denen sie das können. Nische und Tier stehen in einem Interaktionszusammenhang. Außerdem ist die Savanne ein nicht so schwieriges Umfeld, dass es unbedingt dieses Maß an Lernen hervorrufen hätte müssen. Ich möchte wieder einmal die lästige Bemerkung machen, dass das alles nichts Neues ist – und in diesem Zusammenhang nicht nur auf die Ethologie oder auf Freud´s Unbewusstes verweisen, sondern v.a. auf den aus meiner Sicht von der Psychotherapie viel zu wenig beachteten Friedrich Nietzsche, der meinte, das „höhere Selbst“ des Menschen sei der Leib – dieser produziere in seinem Interesse alles was sonst als so spezifisch menschlich gelte – das „Ich“ z.B.: „Hinter deinen Gedanken und Gefühlen (…) steht ein mächtiger Gebieter, ein unbekannter Weiser - der heißt Selbst. In deinem Leibe wohnt er, dein Leib ist er. (…) Dein Selbst lacht über dein Ich und seine stolzen Sprünge. »(…) Ich bin das Gängelband des Ichs und der Einbläser seiner Begriffe.«.“ (F. Nietzsche: Also sprach Zarathustra, Reclam, S. 33f).

Natürlich halte ich das, was die Neurobiologie herausfindet für wichtig. Ich teile nur manche der Schlussfolgerungen nicht, die sie zieht – oder vielleicht besser jene, die sie in der Öffentlichkeit vertreten. Ich habe darüber hinaus den Verdacht, dass diese Schlussfolgerungen Teil eines dominanten Geredes über Menschen sind, das dabei hilft, bestimmte gesellschaftliche Gegebenheiten aufrecht zu erhalten. Die „Neuroplastizität“ etwa, simpel formuliert: wir sind durch unsere Amygdala und unser limbisches System festgelegt, doch wenn wir „lebenslang lernen“, können wir diese Festlegung überwinden. Heißt das jetzt, dass wir keine Gewohnheiten mehr haben dürfen, dass wir manche Übungen, die sich oft über Jahrzehnte immer wieder gleich vollziehen und gerade daraus ihren Wert schöpfen (z.B. Zen, japanische Kampfsportarten), nicht mehr machen sollen? Geht es um „Neues um jeden Preis“ – vor dem Hintergrund der Angst, sonst zu erstarren? Womit ich große Schwierigkeiten habe, ist das aus meiner Sicht potentiell ohnmächtige Menschenbild, das es sowieso bereits als dominantes Gerede gibt und das durch die Interpretationen der Erkenntnisse der Neurobiologie nun noch mehr gefördert werden könnte. Joachim beschreibt es metaphorisch als „Sandwichposition“ – da ist zum einen die nunmehr „objektiv“ durch Bilder beweisbare Festgelegtheit durch neuronale Bahnungen, da ist zum anderen das uns als SystemikerInnen schon bekannte angebliche Aufgelöstsein der Person im Gerede (Stichwort relationale Persönlichkeit). Bewusstsein kommt im Hirn eigentlich immer zu spät (es tritt erst hinzu, wenn die Verarbeitung und Bewertung bereits erfolgt ist) – oder es gilt als Kulturleistung und im hohen Grad durch andere Menschen beeinflussbar. Ich behaupte einmal in einer durchaus narrativen Diktion, dass es sich bei diesen Interpretationen und Bildern über das Bewusstsein (und die menschliche Freiheit) auch um eine Geschichte handelt, die allerdings wirkt und deshalb gerade in unserem Bereich nicht unwesentlich erscheint. Demgegenüber ist es mir persönlich in meiner Arbeit und in meinem Leben wichtig geworden, das menschliche Bewusstsein eben nicht als zwischen Hirn und Gerede eingequetschten Restbereich zu behandeln, sondern als Zwischenraum (sozusagen Ort der Freiheit), den ich in Besitz nehmen kann, um mich – trotz aller Beeinflussung – letztendlich mit dem identifizieren zu können, mit dem ich mich identifizieren möchte. Ob es diese Freiheit physiologisch oder soziologisch „gibt“ oder nicht, erscheint mir in diesem Zusammenhang dann eigentlich gleichgültig. Wenn ich glaube, dass es sie gibt, werde ich mich mit dem, was mir vorgegeben ist, auf andere Weise befassen. Wenn organisches und gesellschaftliches System das psychische System (Bewusstsein) verstören – und nicht instruieren - dann impliziert der Begriff eigentlich auch jenen der Freiheit. Bewusstsein konstituiert sich gemäß seiner Selbstorganisation – Hirn, Körper, Gerede liefern bloß das ihm vorgegebene Material, aus dem es dann das ihm Gemäße gestalten kann. Das Phänomen Bewusstsein nur als Ergebnis von neuronalen oder auch von sozialen Prozessen zu sehen, hat für mich reduktionistischen Charakter. Joachim nimmt darauf auch Bezug, wenn er betont, dass sich zwar die Aufmerksamkeit z.B. auf ein bestimmtes Gefühl zwingend ergibt (also schon vorhanden ist) – dass es aber möglich ist, sich willentlich einem anderen Aufmerksamkeitsfokus zuzuwenden, sich also mit den quasi vorgegebenen Interpretationsschienen zu identifizieren oder nicht. Mit seinen Folgerungen für die Psychotherapie kann ich deshalb gut leben – besser als mit den Interpretationen, die manche Neurobiologen und ihre Nachfolger über die menschliche Freiheit verbreiten. Aus meiner Sicht sieht es so aus: wir finden uns in einer bestimmten Lage vor, die wir auf eine bestimmte Weise wahrnehmen und interpretieren. Zu dieser Lage gehören der Zustand und die Impulse des „menschlichen Viechs“ genauso dazu wie die Umgebungsbedingungen und das diverse mitredende innere und äußere Gerede. Wenn wir uns unserer Lage und dessen, wie wir sie interpretieren bewusst werden, können wir uns dazu auf unterschiedliche Weise positionieren – wir können z.B. „glauben“, was uns unsere Bedürfnisse, Impulse und das umgebene Gerede sagen oder auch nicht. Wir können uns mit unseren Interpretationen identifizieren oder an ihnen zweifeln. Und wir können uns in dieser vorgegeben inneren und äußeren Lage für sehr unterschiedliche Dinge interessieren. Ich behaupte, dass es gerade in dem uns momentan umgebenden postmodern und neoliberalistisch geprägten Interpretationsmilieu wichtig ist, die Idee der menschlichen Freiheit zu pflegen und zu erhalten, weil wir sonst als Menschen über kurz oder lang verkauft und verloren sein könnten.
Sabine Klar

 Sprung  

dieses forum ist eine veranstaltung des
institut für angewandte menschenkunde, wien

Xobor Erstelle ein eigenes Forum mit Xobor
Datenschutz