Abgesehen von der den Menschen vor allen anderen Tieren auszeichnenden Eigenschaft des Selbstbewußtseins, welcher wegen er ein vernünftiges Tier ist..., so wird der Hang: sich dieses Vermögens zum Vernünfteln zu bedienen, nach gerade methodisch, und zwar bloß durch Begriffe zu vernünfteln, d.i. zu philosophieren; darauf sich auch polemisch mit seiner Philosophie an anderen zu reiben, d.i. zu disputieren, und, weil das nicht leicht ohne Affekt geschieht, zu Gunsten seiner Philosophie zu zanken, zuletzt in Massen gegen einander (Schule und Schule als Heer gegen Heer) vereint offen Krieg zu führen; – dieser Hang, sage ich, oder vielmehr Drang, wird als eine von den wohltätigen und weisen Veranstaltungen der Natur angesehen werden müssen, wodurch sie das große Unglück, lebendigen Leibes zu verfaulen, von den Menschen abzuwenden sucht. Immanuel Kant
in diesem sinne: willkommen im online forum therapy meets philosophy des iam
Das freie Wort des Schülers: Grenzgänge (ein Beitrag von Martin Sellner für die Netzwerke der ÖAS)
Warum erscheinen mir Grenzgänge eine eigene Wissenschaft, wenn sie von Sabine Klar vorgetragen werden? Warum kommt bei mir der Eindruck hoch, es könnte andererseits nur Faulheit sein, die richtigen Sachen zu machen, wieder ein Mal - nach Jahren der ausbildungsmäßigen Absenz – in ein Buch zu schauen, ob das was man macht, „richtig“ ist; oder noch vertretbar ist? Wenn Frau Klar ein Tetralemma vorschlägt, so erscheint mir sogar die Erklärung von Insa Sparrer als länger und komplizierter. Da scheint Wissen durch. Da scheint Weisheit durch. Da scheint Reflexion durch. Und dennoch – oder gerade deshalb – macht sie es anders. Kreativ. Bevor jeder einzelne Therapeut sich verteidigt, seine eigene Lehre zu leben möchte ich eine Lanze brechen für die Puritaner. Eine rein nach Methode vorgehende Therapeutin, ein rein nach Methode vorgehender Therapeut, der reflexiv und wissentlich eine Methode anwendet hat meinen vollen Respekt. Obwohl jede und jeder vermutlich situativ handelt; und weil vermutlich jede und jeder seinen ihr und ihm eigenen Stil hat. Doch Sie sind Kenner und Könner in ihrem Fach. Wird das Nicht-nach-Regeln-Arbeiten als Ausrede verwendet, weil man die Regeln nicht mehr kennt? Dieser Verdacht drängt sich komischerweise auf. Ich denke, kein Konzept bleibt kein Konzept. Denn frei nach Watzlawicks erstem Axiom: man kann nicht konzeptlos arbeiten. Und hier möge Konzept nicht mit Rezept sondern fehlendes Konzept mit fehlendem Rezeptbuch gleichgesetzt werden (ob ich das Rezeptbuch dann verwende oder es bei Seite lege und jeden Klienten seinen eigene Therapie – frei nach Yalom – zukommen lasse ist eine weitere, andere Diskussion). Warum erscheinen mir „Grenzgänger“ manchmal als Faule und Pfuscher, die sich an die Wahrheit, das Licht, die Lehre nur nicht mehr erinnern können; zu faul, es nachzulesen? Ohne eine eigene Wahrheit, ein eigenes Licht, eine eigene Lehre gefunden zu haben? Vielleicht weil ich letzteres fordere. Ich fordere es von jenen, die sich als Grenzgänger bezeichnen: ein reflexives Verständnis des bisherigen und einen klaren Blick in die Zukunft, auf das Neue. Dann kennt die Grenzgängerin andere Konzepte, wendet sie allerdings bewusst nicht an. Und dann gilt es für mich als das spannende Grenzgehen!
P.S.: Reflexion auf Frau Klingan: Wenn es nur die Haltung ist, ist es mE Rogers in Reinkultur. So leicht kommt man aus der Konzeptdiskussion nicht weg. Und daher führen die Methoden (Skalierungsfragen, zirkuläres Fragen) zum zumindest latent vorhandenen (Teil?-)Konzept.
Nach der Lektüre des Beitrags von Martin Sellner bin ich mir nicht mehr sicher, ob ich hier eigentlich kritisiert oder gelobt werde. Denn natürlich hat er damit auch recht: ich bin teilweise auch einfach zu faul, mir einen Überblick über die Fülle der Publikationen zu verschaffen, die systemische Methoden beschreiben. Ich mache stattdessen lieber etwas anderes – stundenlang mit einem Philosophen über Fälle diskutieren, an denen wir gemeinsam arbeiten; jahrelang an irgendwelchen eher obskuren, wenn auch tendenziell eigenständigen Grundkonzepten kauen; mich in unvereinbaren geistigen Umgebungen bewegen; im Sinn der Transparenz in Form von Skripten darstellen, wie ich therapeutisch arbeite und was ich davon ausgehend unterrichte. Natürlich verbringe ich auch lieber wochenlang Rückzugszeiten auf unserer Almhütte und mähe das Gras, reguliere einen Bach, gehe „wild“ – und lerne daraus. Ich kann nicht alles – das wird mir immer mehr bewusst. Ich kann mich auch nicht mehr für alles interessieren, meine Hirnkapazitäten geraten dann an ihre Grenzen. Methodische Hinweise verstellen mir persönlich den Blick auf Menschen und hindern mich daran, im jeweiligen Moment kreativ und ganz da zu sein. Vielleicht ist das nur bei mir so - da ich aber mein eigenes Werkzeug bin, muss ich auf meine Eigenheiten achten. „Fleiß“ war jedenfalls nichts, das mir geholfen hat, eine bessere Therapeutin zu werden – er konzentriert mich zu sehr auf mich selbst und meine Leistung und zu wenig auf mein menschliches Gegenüber. Trotzdem kann ich gut nachvollziehen, was Martin Sellner sagt. Als Psychotherapeutin will ich wissen, was ich tue – es muss mir bewusst sein. Als Lehrtherapeutin sollte ich es zusätzlich beschreiben und vermitteln können. Wenn ich mir erlaube, keine methodische Fachliteratur zu konsumieren, bedeutet das nicht, dass ich nichts von anderen lernen kann und muss. Die Diskussion erinnert mich an jene Anfang der 90er Jahre, wo wir uns über die Position des „Nicht-Wissens“ auseinandersetzten und jene Anfang des Jahrhunderts, in der ich mich über die „Beliebigkeitshaltung“ der SystemikerInnen aufregte. Ich vertrete dabei immer noch folgende Meinung: Wenn ich im Grund nichts weiß, bedeutet das nicht, dass ich nichts wissen will. Wenn sich unsere Welt als konstruiert erweist, bedeutet das nicht, dass jede Konstruktion bzw. „Geschichte“ dem Verständnis der Gegenüber, um die es geht, angemessen ist. „Wildgehen“ hat nichts damit zu tun, gedankenlos unterwegs zu sein. Wichtig scheint mir bei all diesen Konzepten (auch dem des konzeptlosen therapeutischen Arbeitens), dass man sich nicht breit und zufrieden darauf niederlässt, so als hätte man endgültig etwas gefunden. Deshalb bin ich froh über Infragestellungen – sie bringen den Prozess der Auseinandersetzung wieder in Gang, helfen dabei zu sagen was man vergessen hat und schaffen ein (dialektisches?) Milieu des Lernens, in dem man den anderen mit seiner so ganz anderen Perspektive wirklich braucht, um etwas herauszufinden. Bei einem bleibe ich jedenfalls: Ich bin eine Suchende, die auch das, was sie gefunden hat, bloß als Ausgangspunkt für weiteres Suchen nimmt. Und ich renne nicht blindlings durch die Gegend.