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Abgesehen von der den Menschen vor allen anderen Tieren auszeichnenden Eigenschaft des Selbstbewußtseins, welcher wegen er ein vernünftiges Tier ist..., so wird der Hang: sich dieses Vermögens zum Vernünfteln zu bedienen, nach gerade methodisch, und zwar bloß durch Begriffe zu vernünfteln, d.i. zu philosophieren; darauf sich auch polemisch mit seiner Philosophie an anderen zu reiben, d.i. zu disputieren, und, weil das nicht leicht ohne Affekt geschieht, zu Gunsten seiner Philosophie zu zanken, zuletzt in Massen gegen einander (Schule und Schule als Heer gegen Heer) vereint offen Krieg zu führen; – dieser Hang, sage ich, oder vielmehr Drang, wird als eine von den wohltätigen und weisen Veranstaltungen der Natur angesehen werden müssen, wodurch sie das große Unglück, lebendigen Leibes zu verfaulen, von den Menschen abzuwenden sucht.
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  • feministisch-systemische ArbeitsgruppeDatum05.02.2008 20:24

    Positionen zu einer kurzen Textstelle von Arnold Retzer von der feministisch-systemischen Arbeitsgruppe (mit Einverständnis von V. Kuttenreiter aus den Netzwerken der ÖAS übernommen)

    Nachfolgende Textstelle aus dem Buch „Systemische Paartherapie“ von Arnold Retzer löste in der feministisch-systemischen Arbeitsgruppe Widerspruch aus und es entstand die Idee, dass einige von uns ihre Positionen in einem kurzen Text für die Netzwerke verschriftlichen.

    IV. Entwicklungsphasen von Paarbeziehungen“
    „5. Produktionsbeginn: Kinder, Karriere, Kapital“ …

    „Auch wenn Ähnlichkeit zwischen den Partnern – oder besser: vermutete und zugeschriebene Ähnlichkeit – mit einer höheren Zufriedenheit einhergeht, ist Ähnlichkeit nicht gleichbedeutend mit Verträglichkeit. Unähnlichkeit schließt Kompatibilität nicht aus. So sind etwa Konstellationen, in denen beide Partner hohe berufliche Karriereziele verfolgen, mit einem hohen Trennungsrisiko assoziiert; ähnliche Orientierungen können also offenbar auch zu Konflikten in praktischen Fragen des Zusammenlebens und der Lebensgestaltung führen (Reichle 1994, Rosenkranz & Rost 1998, Brandstädter&Felser 2003).
    Grundsätzlich gilt, dass Paarbeziehungen, die nicht durch die Bereitschaft einer teilweisen Einschränkung von Individualität und Freiheiten gestützt sind, auch nach empirischen Befunden nicht über die für langfristige Paarbeziehungen erforderlichen Kohäsions- und Koordinierungspotentiale verfügen. Die Bereitschaft, eigene Ziele und Ansprüche partnerschaftlichen Belangen unterzuordnen, erscheint vor diesem Hintergrund als die zentrale Ressource für die Stabilität des Beziehungssystems und seiner Widerstandsfähigkeit gegen Konflikte und Belastungen. Dies gilt besonders für die Phase der Produktion von Kindern, Karriere und Kapital.“ (S. 312)
    Aus: Arnold Retzer: „Systemische Paartherapie“, Klett-Cotta: Stuttgart, 2004


    Ein Kommentar zu Arnold Retzer von Michaela Mühl

    Warum löst diese nüchtern klingende Beschreibung Wut bei mir aus? Vermutlich kann jedes Argument, das ich finde, wiederlegt werden, indem darauf hingewiesen wird, dass Retzer nicht ausdrücklich die Frauen meint, wenn er von der „..Bereitschaft einer teilweisen Einschränkung von Individualität und Freiheiten...“ schreibt, die dann eine „...zentrale Ressource für die Stabilität des Bezugssystems..“ sein soll. Ich kann mir gut die Paare in der systemischen Paartherapie vorstellen, die ähnliche Aussagen eines Therapeuten/einer Therapeutin hören – die Frau wird sich denken „na super, dann darf ich noch mehr zurückstecken und muss noch mehr daheim bei den Kindern bleiben“ und der Mann denkt sich „ausgezeichnet, hab ich ein Argument mehr um weiter meine Karriere zu verfolgen, eh klar, die Frau muss bei den Kindern bleiben“. Ist es so weit hergeholt zu vermuten, dass die von Retzer beschriebene therapeutische Haltung dazu beitragen wird, dass die Frauen noch mehr Familienlast auf sich nehmen und sich die Männer immer munter weiter vor ihrer väterlichen Verantwortung drücken werden (oder sich weiter darauf beschränken werden einen – wenn überhaupt – finanziellen Beitrag zu leisten). Ist es Ziel systemischer Paartherapie dazu beizutragen, die Hauptlast einer Gesamtverantwortung noch mehr auf eine Person (zufälligerweise meist die Frau) zu verstärken?

    Ist es Zufall, dass Retzer nicht ausdrücklich betont, dass unbedingt beide Seiten diese Bereitschaft der Einschränkung zeigen müssen? Oder steht doch eine Absicht dahinter und zwar die, Frauen in die traditionelle Rolle der Hausfrau und Mutter zu drängen und bloß nicht als systemischer Therapeut dazu beizutragen, dass es zu einer gerechteren Aufgabenteilung kommen könnte, von der die ganze Familie profitiert?


    Ein Kommentar zu Arnold Retzer von Elisabeth Klar

    Gleich und gleich gesellt sich gern – Gegensätze ziehen sich an. Die Ambivalenz der Rolle von Ähnlichkeit beziehungsweise Unterschiedlichkeit in der Partnerwahl und Paarbeziehung ist weder neues Thema noch eines, bei dem ein eindeutiges Urteil bereits gesprochen wäre. Abgesehen davon stellt vor allem Retzers konfuse Verwendung des Begriffs ein schwerwiegendes argumentatives Problem dar. Meint Retzer hier denn Ähnlichkeit im Sinne von Interessen, Bildung, Weltbild, Menschenbild, kulturellem Hintergrund, politischer Einstellung, religiöser Einstellung, Einstellung zur Beziehung, materieller Lebenssituation, Lebensführung, sexuellen Vorlieben, Genpool oder etwa gleichgeschlechtlichen Partnerschaften? Retzer eröffnet uns das wunderbare und riesige Spektrum der möglichen Ähnlichkeiten zweier Menschen und reduziert sie in Folge lediglich auf die beruflichen Interessen und materiellen Aspekte. Weiters reduziert er die möglichen Auswirkungen dieser einen speziellen Ähnlichkeit auf die negativen. Diese Argumentation ist nicht nur sehr suggestiv, sondern vor allem in keinster Weise wissenschaftlich.

    Zur „Phase der Produktion von Kindern, Karriere und Kapital“ ist lediglich anzumerken, dass, wenn man schon kapitalistischen Diskurs in die Familientherapie einbringen möchte, man zumindest so konsequent sein sollte, dann auch tatsächlich wirtschaftliche Theorien zu verwenden. So könnte man zwischen produktionsorientierter (serieller, auf Quantität zielender), produktorientierter (in teurer Einzelanfertigung auf Qualität zielender) und marktorientierter (den Bedürfnissen der Kunden, also der Gesellschaft, anmodellierender) Herstellung unterscheiden. Wie man in diesem Unternehmen jedoch jemals schwarze Zahlen schreiben will, das frage mich nicht. Das erhoffte Outcome ist so unsicher wie in kaum einer Sparte, die Zeitspanne bis zur Amortisierung außerdem viel zu lang, noch dazu wenn man bedenkt, dass die durchschnittliche Lebensdauer einer Firma heutzutage kaum mehr als zehn Jahre beträgt, die eines Familienunternehmens zudem noch kürzer, ein Zeitpunkt, zu dem noch gewaltige Investitionen getätigt werden müssen, möchte man in ferner Zukunft vielleicht tatsächlich einmal Gewinne erzielen.
    Allerdings, das muss zugestanden werden, verfügt man auf diesem Sektor, sollte man nicht auf Kindergärten oder Privatschulen auslagern, immerhin über die billigsten Arbeitskräfte der Welt.

    Wenn Retzer gewisse Paarkonstellationen mit einem hohen „Trennungsrisiko“ assoziiert, setzt er den Zusammenhalt von Paaren, also die „Stabilität des Beziehungssystems“, als die einzige oder zumindest als die höchste Messlatte für die Beurteilung einer Partnerschaft an. Dass das Paar zusammenbleibt, wird in seiner Priorität offensichtlich über Faktoren wie Selbstbestimmung, Unabhängigkeit oder auch Zufriedenheit gestellt. In diesem Lichte müsste man die Paarbeziehungen vergangener Jahrhunderte als das Idealbild für die Moderne heranziehen, dem es nachzueifern gilt, da hier ja Trennungen oder gar offizielle Scheidungen die Ausnahme von der Regel gewesen sind. Dass man es dagegen auch als positiv sehen könnte, dass Paare heutzutage nicht mehr um jeden Preis zusammen bleiben müssen und dass man disfunktionale Beziehungen, die aufgrund bestimmter Umstände (wie gerade eben der materiellen Abhängigkeit eines/r der PartnerInnen) nicht zu einer Trennung führen, dagegen durchaus auch kritisch beurteilen könnte, wird hier nicht miteinbezogen.


    Verdreht und ganz verkehrt, oder: wozu manche Zitate assoziativ inspirieren … ein Kommentar zu Arnold Retzer von Sabine Kirschenhofer

    Eine hervorragende Textpassage von Arnold Retzer, sollte sich so manches Paar wirklich mal hinter die Ohren schreiben. Und dann so vollkommen geschlechtsneutral geschrieben – „herrlich“. Bei Partnern ist natürlich von heterosexuellen Paaren die Rede, nicht dass Sie sich da verwirren lassen von der männlichen Grammatik und gar annehmen, da wäre von schwulen Paaren die Rede, die (männliche Grammatik nämlich) ist ja wirklich irreführend, wo doch klar ist, dass beide Geschlechter gemeint sind.
    Ja und die für die Kinder-Karriere-Kapital-Phase erforderlichen Kohäsions- und Koordinierungspotentiale, die gehen halt nicht ohne Einschränkung von Individualität und Freiheiten. Dass – in Österreich – immer noch hauptsächlich Frauen die einzigartige Chance nutzen, dem Erwerbsarbeitsleben via Kinderkarenz jahrelang zu entkommen, kann man ja eigentlich als kolossale Benachteiligung der Männer werten, die ihre individuelle Freiheit nicht so luxuriös ausbauen können.
    Na und das ist ja ganz klar, dass da so viele Beziehungen ins Schleudern kommen in dieser kritischen Phase, wenn manche Frauen gar nicht daran denken, ihre Freiheiten einzuschränken sondern sie sogar noch ausbauen, indem sie sich da mit dem Säugling respektive Kleinkind einen Lenz machen, jahrelang! Und all das auf Kosten der Männer, die dann in das Los der Allein- oder Hauptverdienenden gestoßen werden.
    Immerhin wachen viele Frauen dann ja nach etlichen Jahren wieder auf und versuchen wenigstens, durch schlechtbezahlte Teilzeitjobs diese Schuld maßloser Freiheitsexzesse abzutragen. Aber dann – weil sie ja so lange weg vom Leistungsfenster waren – haben sie das mit der Leistung leider ein bissel verlernt und klagen tagein, tagaus über Benachteiligung der Frau wegen Doppelt- und Dreifachbelastung.
    Die besonders Hartnäckigen schaffen es ja tatsächlich, ihre Partner in eine Paartherapie zu schleifen. Wo das Gerede mit der Doppelt- und Dreifachbelastung weitergeht – und dann kann man nur hoffen, dass der Therapeut oder die Therapeutin obiges Buch gelesen hat und allem weiteren Gerede, welche ja nichts außer destruktiv ist, durch entsprechende Interventionen (wir empfehlen feierliches Vorlesen z.B. obiger Zitate) Einhalt gebietet.


    Eine Fallgeschichte zu Arnold Retzer von Hedwig Wagner

    „Produktionsende"?
    Lieber Herr Retzer, wieso landete dieses produktive Paar nach 19 jähriger Ehe mit hoher Unzufriedenheit mit ihrer Paarbeziehung in der Familientherapie?

    Frau und Herr S. hatten sich für das traditionelle, unähnliche Genderrollenmodell und von großer Bereitschaft getragene Modell, die individuellen Ziele und Freiheiten, den partnerschaftlichen und familiären unterzuordnen, entschieden. Vor 20 Jahren haben sie sich ineinander verliebt. Sie war Friseurin, er Monteur, technische Fachkraft in einem multinationalem Konzern und gerade in ihrem Heimatstädtchen tätig. Beiden waren (Ähnlichkeit) die beruflichen Ziele, Karriere (sie war sehr begabt und hat schon als Lehrling Wettbewerbe gewonnen, er war anerkannt, weil er für die schwierigsten technischen Pannen Lösungen fand) weniger wichtig als eine glückliche Familie zu gründen. So begannen sie bald und erfolgreich mit der Kinderproduktion. 3 Kinder in den ersten 7 Ehejahren, ein viertes noch im 12. Ehejahr. Individuell und bewusst als Paar entschieden sie, dass Fr. S. Haushalt und Kinder betreut und Hr. S. durch Erwerbstätigkeit die finanziellen Grundlagen schafft. Naja, ein wenig mag vielleicht mitgespielt haben, dass seine Firma auch bereit war ein höheres Gehalt zu bezahlen, als ihr Friseursalon. Die Produktionsphase kann als erfolgreich betrachtet werden: 4 Kinder, 2 Mädchen, 2 Buben und ein kleines Eigenheim am Stadtrand, ein Auto ist angeschafft, der Kredit dafür läuft noch. Er ist ein geschätzter Fachmann seiner Firma, hat seinen Job trotz aller Einsparungsmaßnahmen behalten. Sie sorgt für Haushalt und unterstützt einen Adoleszenten, zwei Pubertierende und das jüngste Kind. Was macht unzufrieden?
    Hr. S. hat seinen beruflichen Stress (hat er dieses Monat wieder genug Überstunden und Spesen, um alle Familienausgaben bezahlen zu können) bei seinen Auslandsarbeitseinsätzen mit Alkohol sediert und war dann auch daheim gereizt bis zur Gewalttätigkeit. Fr. S. fühlte sich bedroht, hat Polizei und Jugendamt zum Schutz der Familie eingeschaltet. Fr. S, eine quirlige, leistungsfähige Frau hat zwar den Haushalt mit sparsamster Geldgebarung locker geschafft, es gelang ihr aber nicht ausreichend die Kinder fit zu machen, damit diese in den Bildungsinstitutionen ohne Probleme bestehen. Die Buben wollten nicht genug für die Schule lernen, legten sich mit den Lehrern an. Jetzt klagen sie über ihren Stress am Lehrplatz. Die Mädchen lernen brav, die ältere hält ihren Freundeskreis geheim und ritzt sich. Die kleine imitiert die provokanten Pubertierenden. Jetzt hat Fr. S. das Gefühl sie schafft es alleine nicht mehr.
    Zum Glück wusste das Jugendamt einen Ausweg: Familientherapie für Familie S. zur Unterstützung der Erziehung.
    Mit positiver Konnotation des Produktionserfolgs, Alkoholabstinenz von Hrn. S. und ein paar individuell erarbeiteten Tipps für die Erziehung werden wir die Stabilität dieser Familie doch hinkriegen oder?
    Aber werden auch die Kinder die Produktivität, Effizienz und Stabilität dieses Erfolgsmodells fortsetzen?


  • NeurobiologieDatum05.02.2008 18:53
    Foren-Beitrag von Sabine Klar im Thema Neurobiologie

    Antwort von Sabine Klar auf Joachims Beitrag

    Joachim benennt hier, was er aus den Ergebnissen der Neurobiologie für die therapeutische Arbeit gewonnen hat. Vieles davon kann ich nachvollziehen, ja es freut mich sogar, dass nach all diesen Jahren der Fokussierung auf Sprachliches dem Biologischen und damit dem Körper und seinen Verarbeitungs- und Ausdrucksformen wieder mehr Aufmerksamkeit gegeben werden soll. Was mich ein wenig überrascht ist, dass es zu einem so späten Zeitpunkt geschieht – ich frage mich: Warum gerade jetzt? Was lässt dieses Interesse, das von der Erkenntnislage zumindest seit den 80er Jahren, wenn nicht schon viel früher, möglich gewesen wäre, zum jetzigen Zeitpunkt so faszinierend erscheinen? Soviel ich noch aus meinem Studium der Ethologie, das auch die Neuro- und Sinnesphysiologie einbezog weiß, hat sich am Grundverständnis neuronaler Verarbeitungsformen inhaltlich seitdem recht wenig verändert – was sich verbessert hat, sind u.a. die bildgebenden Verfahren. Man „sieht“ also genauer, wo und wann das Gehirn aktiv ist. Und das macht mich ein wenig misstrauisch. Wollen wir uns wieder „ein Bild machen“? Sind wir wieder auf der Suche nach „Objektivität“? Wollen wir wieder wissen, was „wirklich“ wirkt? Wollen es unsere Auftraggeber (z.B. der medizinische Kontext, die Krankenkassen) wieder wissen? Und was bedeutet das für den Freiraum der Psychotherapie innerhalb all des verbreiteten Geredes über „Funktionalität“?

    Bevor ich dazu komme, möchte ich ein paar kurze Bemerkungen zum „menschlichen Tier“ machen. Als Ethologin teile ich Joachims Meinung natürlich: Menschen sind auch Tiere, keine Frage. Ich habe allerdings den Eindruck, dass sie aus der Sicht der Neurobiologie eher als „Gehirne“ erscheinen. Das „menschliche Viech“, so wie wir es in unserem IAM-Konzept (http://iam.or.at//) verstehen, ist weit mehr als bloß die diversen Stamm- und Mittelhirnbereiche, die unter der Rinde ihre subversiven Aktivitäten entfalten. Das „Viech“ ist eine Verarbeitungsdynamik, die sich in einem ganzen Körper vollzieht, der etwa auch vom endokrinen System massiv beeinflusst wird. Der Fokus auf die genannten Hirnbereiche ist einfach ein sehr reduktionistischer. Die zitierte Meinung von Roth, Menschen seien bei der Verteilung ökologischer Nischen zu kurz gekommen und hätten deshalb lernen müssen, empfinde ich aus ethologischer Sicht als sehr fragwürdig. Zum einen werden ökologische Nischen nicht verteilt, sie bleiben auch nicht übrig. Tiere versuchen unter bestimmten Gegebenheiten zu überleben und schaffen sich damit gleichzeitig auch die Gegebenheiten, unter denen sie das können. Nische und Tier stehen in einem Interaktionszusammenhang. Außerdem ist die Savanne ein nicht so schwieriges Umfeld, dass es unbedingt dieses Maß an Lernen hervorrufen hätte müssen. Ich möchte wieder einmal die lästige Bemerkung machen, dass das alles nichts Neues ist – und in diesem Zusammenhang nicht nur auf die Ethologie oder auf Freud´s Unbewusstes verweisen, sondern v.a. auf den aus meiner Sicht von der Psychotherapie viel zu wenig beachteten Friedrich Nietzsche, der meinte, das „höhere Selbst“ des Menschen sei der Leib – dieser produziere in seinem Interesse alles was sonst als so spezifisch menschlich gelte – das „Ich“ z.B.: „Hinter deinen Gedanken und Gefühlen (…) steht ein mächtiger Gebieter, ein unbekannter Weiser - der heißt Selbst. In deinem Leibe wohnt er, dein Leib ist er. (…) Dein Selbst lacht über dein Ich und seine stolzen Sprünge. »(…) Ich bin das Gängelband des Ichs und der Einbläser seiner Begriffe.«.“ (F. Nietzsche: Also sprach Zarathustra, Reclam, S. 33f).

    Natürlich halte ich das, was die Neurobiologie herausfindet für wichtig. Ich teile nur manche der Schlussfolgerungen nicht, die sie zieht – oder vielleicht besser jene, die sie in der Öffentlichkeit vertreten. Ich habe darüber hinaus den Verdacht, dass diese Schlussfolgerungen Teil eines dominanten Geredes über Menschen sind, das dabei hilft, bestimmte gesellschaftliche Gegebenheiten aufrecht zu erhalten. Die „Neuroplastizität“ etwa, simpel formuliert: wir sind durch unsere Amygdala und unser limbisches System festgelegt, doch wenn wir „lebenslang lernen“, können wir diese Festlegung überwinden. Heißt das jetzt, dass wir keine Gewohnheiten mehr haben dürfen, dass wir manche Übungen, die sich oft über Jahrzehnte immer wieder gleich vollziehen und gerade daraus ihren Wert schöpfen (z.B. Zen, japanische Kampfsportarten), nicht mehr machen sollen? Geht es um „Neues um jeden Preis“ – vor dem Hintergrund der Angst, sonst zu erstarren? Womit ich große Schwierigkeiten habe, ist das aus meiner Sicht potentiell ohnmächtige Menschenbild, das es sowieso bereits als dominantes Gerede gibt und das durch die Interpretationen der Erkenntnisse der Neurobiologie nun noch mehr gefördert werden könnte. Joachim beschreibt es metaphorisch als „Sandwichposition“ – da ist zum einen die nunmehr „objektiv“ durch Bilder beweisbare Festgelegtheit durch neuronale Bahnungen, da ist zum anderen das uns als SystemikerInnen schon bekannte angebliche Aufgelöstsein der Person im Gerede (Stichwort relationale Persönlichkeit). Bewusstsein kommt im Hirn eigentlich immer zu spät (es tritt erst hinzu, wenn die Verarbeitung und Bewertung bereits erfolgt ist) – oder es gilt als Kulturleistung und im hohen Grad durch andere Menschen beeinflussbar. Ich behaupte einmal in einer durchaus narrativen Diktion, dass es sich bei diesen Interpretationen und Bildern über das Bewusstsein (und die menschliche Freiheit) auch um eine Geschichte handelt, die allerdings wirkt und deshalb gerade in unserem Bereich nicht unwesentlich erscheint. Demgegenüber ist es mir persönlich in meiner Arbeit und in meinem Leben wichtig geworden, das menschliche Bewusstsein eben nicht als zwischen Hirn und Gerede eingequetschten Restbereich zu behandeln, sondern als Zwischenraum (sozusagen Ort der Freiheit), den ich in Besitz nehmen kann, um mich – trotz aller Beeinflussung – letztendlich mit dem identifizieren zu können, mit dem ich mich identifizieren möchte. Ob es diese Freiheit physiologisch oder soziologisch „gibt“ oder nicht, erscheint mir in diesem Zusammenhang dann eigentlich gleichgültig. Wenn ich glaube, dass es sie gibt, werde ich mich mit dem, was mir vorgegeben ist, auf andere Weise befassen. Wenn organisches und gesellschaftliches System das psychische System (Bewusstsein) verstören – und nicht instruieren - dann impliziert der Begriff eigentlich auch jenen der Freiheit. Bewusstsein konstituiert sich gemäß seiner Selbstorganisation – Hirn, Körper, Gerede liefern bloß das ihm vorgegebene Material, aus dem es dann das ihm Gemäße gestalten kann. Das Phänomen Bewusstsein nur als Ergebnis von neuronalen oder auch von sozialen Prozessen zu sehen, hat für mich reduktionistischen Charakter. Joachim nimmt darauf auch Bezug, wenn er betont, dass sich zwar die Aufmerksamkeit z.B. auf ein bestimmtes Gefühl zwingend ergibt (also schon vorhanden ist) – dass es aber möglich ist, sich willentlich einem anderen Aufmerksamkeitsfokus zuzuwenden, sich also mit den quasi vorgegebenen Interpretationsschienen zu identifizieren oder nicht. Mit seinen Folgerungen für die Psychotherapie kann ich deshalb gut leben – besser als mit den Interpretationen, die manche Neurobiologen und ihre Nachfolger über die menschliche Freiheit verbreiten. Aus meiner Sicht sieht es so aus: wir finden uns in einer bestimmten Lage vor, die wir auf eine bestimmte Weise wahrnehmen und interpretieren. Zu dieser Lage gehören der Zustand und die Impulse des „menschlichen Viechs“ genauso dazu wie die Umgebungsbedingungen und das diverse mitredende innere und äußere Gerede. Wenn wir uns unserer Lage und dessen, wie wir sie interpretieren bewusst werden, können wir uns dazu auf unterschiedliche Weise positionieren – wir können z.B. „glauben“, was uns unsere Bedürfnisse, Impulse und das umgebene Gerede sagen oder auch nicht. Wir können uns mit unseren Interpretationen identifizieren oder an ihnen zweifeln. Und wir können uns in dieser vorgegeben inneren und äußeren Lage für sehr unterschiedliche Dinge interessieren. Ich behaupte, dass es gerade in dem uns momentan umgebenden postmodern und neoliberalistisch geprägten Interpretationsmilieu wichtig ist, die Idee der menschlichen Freiheit zu pflegen und zu erhalten, weil wir sonst als Menschen über kurz oder lang verkauft und verloren sein könnten.
    Sabine Klar

  • NeurobiologieDatum05.02.2008 18:53
    Thema von Sabine Klar im Forum systemische psychother...

    In den Netzwerken der ÖAS ist von J. Hinsch folgender Beitrag erschienen, den ich dankenswerterweise auch in unser Forum stellen darf. (SK)

    Positionen zum Thema Gehirnforschung

    Soll man sich um die Ergebnisse der Neurobiologie kümmern? – Joachim Hinsch

    Die Ergebnisse der Neurobiologie sind beeindruckend. Das ist für mich keine Frage. Offen ist nur die Verwendung dieser Forschung in der Psychotherapie:
    Soll man die „Bildgebenden Verfahren“, mit denen Veränderungen im Hirn unter experimentellen Bedingungen nachweisbar werden, zur Messung des Wertes der Psychotherapie nutzen und damit analog der akademischen Psychologie den Versuch wagen, Psychotherapie als Naturwissenschaft zu etablieren, damit auch das Wagnis eingehen, Psychotherapie in einen Vergleichskampf mit chemischen Verfahren zu hetzen? Diese Ideen haben sicherlich – auch wenn sie uns PsychotherapeutInnen den Boden unter den Füßen wegzögen – einige bestechende Argumente für sich, leiden aber an so schweren methodischen Mängeln und Vermischung logischer Ebenen, dass wir uns in absehbarer Zeit ohnehin nicht fürchten müssen. Die Hirnforschung kann streng genommen nur Beziehungen zwischen neurophysiologischen Parametern untersuchen, aber nicht erklären, warum aus neuronalen Erregungen Empfindungen oder Gedanken entstehen.
    Aber es gibt einen anderen Aspekt, den wir SystemikerInnen seit Ciompi zunehmend beachten; dass Probleme nicht nur eine Folge bestimmter Kommunikationen und Geschichten sind, dass wir also nicht nur aus der Geschichte bestehen, die wir über uns erzählt bekommen und über uns erzählen. Ob wir es wollen oder nicht: Der Mensch ist auch – und das in einem sehr großen Maß - Tier. Unser Denken und Wahrnehmen ist nicht nur von den bewusstseinsfähigen Regionen des Hirns bestimmt, sondern unter anderem auch von Stammhirn, Hypothalamus und limbischem System. Somit unterscheiden wir uns in wesentlichen Bereichen nicht sonderlich von den anderen Primaten. Und da gilt, wie Roth sagt, bei Primaten wie bei sämtlichen anderen Lebewesen:
    „Primär hat ein Nervensystem keine andere Aufgabe, als alle Veränderungen der äußeren Welt, die zu Störungen der inneren Ordnung des Organismus führen, abzuwenden oder auszugleichen, Bedrohungen der inneren Ordnung immer frühzeitiger wahrzunehmen, Veränderungen der äußeren Welt immer besser abzuschätzen und immer spezifischer auf derartige Bedrohungen zu reagieren“. Dieses Nervensystem muss beim Menschen besonders gut ausgebildet sein, weil die Menschen bei der Verteilung ökologischer Nischen zu kurz gekommen sind, nehmen mussten, was übrig geblieben war - die Savanne. Diese Besonderheit führte zur unbedingten Notwendigkeit zu lernen, um überleben zu können: Sozialisation ist Lernen, und Lernen verändert das Hirn.
    Die vor einiger Zeit entdeckte Neuroplastizität des Hirns, das Neuverzweigen der Nervenzellen durch Lernen/Handeln geht bis ins hohe Alter, endet nicht in der Kindheit. Das Hirn wächst, wenn der Mensch lernt, es verkümmert, wenn er nicht lernt. Daher gilt die Maxime: Lerne, was du nicht kannst (wenn du eher die rechte Hand bevorzugst, nimm auch die linke, wenn du eher emotional reagierst, versuche die Ratio einzuschalten und umgekehrt)! Lass liegen, worin du schon eine gewisse Meisterschaft besitzt, und wage dich an Neues! Ein kleines Beispiel hat mich von diesem Gedanken überzeugt: Nach einem Schlaganfall, der die rechte Hand lahm legt, wird nicht mehr versucht, die Kompetenz der linken Hand zu steigern, um so die Patientin zu rehabilitieren. Im Gegenteil wird die linke Hand auch noch lahm gelegt, wodurch die rechte Hand wieder aktiviert wird und sich infolge der Neuroplastizität des Hirns neue Verbindungen aufbauen. Wir haben Lernen immer viel zu viel als Wissenserwerb begriffen. Es lernt aber nicht nur der kognitive Apparat, nicht nur die bewusstseinsfähigen Regionen, die dünne Schicht der grauen Zellen der Hirnrinde, sondern das ganze Hirn. Alle Erfahrungen sind Lernprozesse unterschiedlichster Bereiche des Hirns. Dieses Erlernte bestimmt wiederum die Wahrnehmung und damit das Verhalten. Die nicht bewusstseinsfähigen Regionen lernen eben auch und signalisieren an den Cortex, was immer sie gelernt haben.

    Wie Roth an anderer Stelle ausführt, erscheint dabei „das bewusst planende Ich als der Lenker: Ich fühle mich in meinen Entscheidungen frei, eingeschränkt höchstens durch Zeitdruck, Vorschriften und emotionale Erregung.“ Das Gefühl der bewussten Verhaltenssteuerung ist aber – laut Neurobiologie - eine Illusion, Verhalten werde durch Unbewusstes vorbereitet und festgelegt. Laut Roth sieht die Neurobiologie folgende Ideen als gesichert:
    Die limbischen Zentren bewerten alles, was durch uns und mit uns geschieht: ob etwas bekannt, vorteilhaft, lustvoll, sinnvoll zu wiederholen oder unbekannt, schmerzhaft und zu vermeiden ist. Alle Handlungsentscheidungen werden im Licht vergangener emotionaler Erfahrungen getroffen. Neugier, Belohnungserwartung, Freude, Furcht, Abneigung bei bekannten Dingen, Vorsicht und Umsicht und der Befehl, etwas zu tun, was aufgrund früherer Erfahrungen sinnvoll erscheint, werden durch dieses Bewertungssystem erzeugt. Das Gehirn kann zwar über seine Sinnesorgane durch die Umwelt erregt werden, diese Erregungen enthalten jedoch keine bedeutungshaften und verlässlichen Informationen über die Umwelt. Die Wirklichkeit ist ein Konstrukt des Gehirns. Die Erfahrung, ein autonomes, subjektives Ich zu sein, beruht auf Konstrukten, die im Lauf unserer kulturellen Evolution entwickelt wurden. „Freie Entscheidungen“ seien demnach nachträgliche Begründungen von Zustandsänderungen, die ohnehin erfolgt wären.

    Nach Hüther gingen Neurobiologen lange davon aus, dass ältere Bereiche des Hirns wie Stammhirn, Hypothalamus und limbisches System bei allen Primaten normalerweise immer gleichmäßig funktionieren. Über die „bildgebenden Verfahren“ wurde aber klar, dass diese Bereiche sich verändern, wenn Probanden ihre Aufmerksamkeit auf unterschiedliche Bereiche lenken oder sich frühere Erfahrungen bewusst in Erinnerung rufen. Aufmerksamkeit hat eine Vorerregung in den mit Aufmerksamkeit bedachten Feldern zur Folge. Das Bewusstsein spielt also eine große Rolle. Aber wo entsteht das Bewusstsein? Das stellt Wissenschaftler, wie Hüther ausführt, vor ein unlösbares Dilemma: denn man kann ja nicht subjektiv gesteuerte Prozesse objektivieren. Bewusstsein ist zwangsläufig das Ergebnis eines kognitiven Lernprozesses. (Das im Gehirn erzeugte Selbstmodell des „Ich“ lässt sich als eine Eigenrepräsentation verstehen, bei der die so generierte Vorstellung des „Ich“ als eigenständiges Objekt wahrgenommen wird). Bewusste Willensentscheidungen, Unterscheidungen, Wahrnehmungen und bewusstes Erleben der eigenen Identität sind, so Hüther, in hohem Ausmaß durch andere Personen beeinflussbar. Der Grad an Bewusstheit oder die Bewusstseinsstufe, die ein Mensch entwickeln kann, ist abhängig von dem Bewusstsein, das in der Welt der Erwachsenen herrscht, in die ein Kind hineinwächst. Bewusstsein ist daher eine Kulturleistung und der Ort, an dem das Bewusstsein entsteht, nicht das Hirn, sondern die Gesellschaft. Dieses Verständnis sei vergleichbar mit dem Entstehen der menschlichen Sprache. Zwar braucht es dafür bestimmte Zentren im Gehirn, aber das Verstehen entsteht dadurch, dass Eltern normalerweise mit ihren Kindern reden. Je nachdem, wie viel und wie komplex dieser verbale Austausch ist, werden auch die betreffenden Hirnregionen mehr oder weniger komplex herausgeformt.

    Diese Ideen Hüthers lassen sich gut mit der Systemtheorie Luhmanns und den drei Systemen (organisches, kommunikatives, psychisches System) verbinden.
    Das Bewusstsein in der Auffassung Hüthers entspräche dann dem psychischen System, wo Erleben und Gedanken aneinander anschließen. Das organische System wären hier bestimmte Hirnareale, die das Bewusstsein ermöglichen und Regionen des Hirns, die dieses Bewusstsein emotional färben. Kommunikationen, aus denen sich das kommunikative System ergibt, schließen an dominante und weniger dominante Diskurse und Umweltbedingungen an, auf die sich das Individuum bezieht. Die Gesellschaft liefert also quasi das Material, an das Kommunikationen anschließen können. Organisches und kommunikatives System verstören das Bewusstsein, das autonom auf diese Anstöße reagiert. Das Bewusstsein und damit die Aufmerksamkeit verstören wiederum das organische (das dann wieder neu lernt, neue synaptische Verbindungen herstellt) und das kommunikative System. Diese reagieren wiederum autopoietisch und verstören wiederum das psychische System, das Bewusstsein, usw. Hüther sagt also, dass die gesellschaftlichen Bedingungen - die Kultur - das Bewusstsein entsprechend den Möglichkeiten der betroffenen Hirnregionen konstituieren. Ein System kann dabei das andere nicht instruieren, sondern nur anstoßen. Das Bewusstsein reagiert dann entsprechend seiner Struktur, z.B. seiner Vorerfahrungen. Dasselbe gilt dann für die Beziehung zwischen Bewusstsein und Organismus.

    PsychotherapeutInnen haben es mit diesem Bewusstsein zu tun: dem eigenen und dem ihrer KlientInnen. Dieses Bewusstsein verändert sich dann in Relation zur jeweiligen Umwelt, zur jeweiligen Interaktion, kann so wie Identität nicht als Entität sondern nur als relational verstanden werden, weil die jeweilige Interaktion die Aufmerksamkeit wiederum lenkt. Das Bewusstsein ist also in einer Sandwich-Position: hier die Bewertungen der Gesellschaft, des Kontextes, denen sich das Individuum anschließt, dort die nicht bewusstseinsfähigen Regionen, die ununterbrochen aufgrund der Erfahrungen, des Erlernten und der jeweiligen genetischen Ausstattung feuern. Aus dieser Sandwich-Position zwischen Gesellschaft und Organischem ergibt sich zwingend die Aufmerksamkeit auf ein bestimmtes Gefühl. Erst in einem weiteren Schritt kann die bewusste, willentliche Entscheidung fallen, die Aufmerksamkeit auf ein Gefühl zu richten, das auch der Situation entspricht aber andere Handlungsmöglichkeiten eröffnet. Ein banales Beispiel: Ich habe mir gerade einen Gebrauchtwagen gekauft, der bei der ersten Fahrt ins Ausland kaputt ging, die Dieselzufuhr war geplatzt. Das Diesel spritzte, das Elend war perfekt, besonders als sich herausstellte, dass die Ersatzteile nicht verfügbar waren. Ich fühlte mich als Opfer der Situation, des Verkäufers und der Werkstatt. Dieses Verstehen hätte jetzt meine Stimmung und den Urlaub verdorben. Die bewusste Entscheidung, mich gegen diese Opferhaltung zu wehren, ließ mich sehr schnell umdenken, mich wieder auf den Urlaub freuen und neue Möglichkeiten entdecken, das Auto irgendwie zu managen. Ich war erleichtert.
    So können wir – manchmal nur mit Hilfe einer PsychotherapeutIn – unsere Aufmerksamkeit auf andere Gefühle lenken und damit den Gefühlen ihren zwingenden Charakter nehmen. Damit ist Willensfreiheit – zumindest in einem gewissen Ausmaße - wieder gegeben.

    Die Neuroplastizität ermöglicht lebenslange Veränderungen der neuronalen Strukturen, Veränderungen im organischen System und damit Verstörung des psychischen Systems, des Erlebens. Also hilft es, neue Erfahrungen zu machen, den KlientInnen zu helfen, sich bei Ängsten und Traumata nicht für das Denken, Fühlen, Handeln des verletzten oder traumatisierten Kindes, seiner schmerzhaften Erfahrungen in der Vergangenheit - zu schämen, es nicht weiter abzulehnen sondern ihm – diesem Kind - durch sich selbst und andere Akzeptanz, Trost und Wärme zu geben. Dabei kann nur im kommunikativen System, also im Hier und Jetzt die Voraussetzung für neue Erfahrungen geschaffen werden, aber diese kann die alte Erfahrung eventuell erweitern, neue neuronale Verbindungen herstellen, wenn es auch heißt: die Amygdala vergisst nie.

    Weitere Folgerungen für die Psychotherapie
    • Wenn man in ein Problem verwickelt ist, beobachtet man hauptsächlich sein eigenes Denken. Hilfreich scheint es aber auch, nicht nur sein Denken sondern auch sein Verhalten zu beobachten (unabhängig von dem, was ich darüber denke, wie verhalte ich mich eigentlich) und die Körperhaltung, da das Verhalten weniger der Kontrolle des kognitiven Apparates unterliegt und stärker von den nicht bewusstseinsfähigen Regionen organisiert ist. Beobachtungsaufgaben könnten sich also ganz stark auf die Selbstbeobachtung des Verhaltens beziehen.
    • Wenn Verbote von Eltern bei einem Kind nicht bewältigbare Angst auslösen, stellt es im weitesten Sinn für die Existenz dieses Kindes eine Gefahr dar, wenn ein Verbot aber neue Lernprozesse ermöglicht, ist es für die Weiterentwicklung, für das Initiieren von Lernprozessen hilfreich und wichtig.
    • Wir können uns sinnvoller Weise immer nur um die Herstellung günstiger Randbedingungen für Veränderung bemühen, wie Ludewig betont. Diese günstigen Randbedingungen sollten aber in stärkerem Ausmaß, als wir es bisher gesehen haben, die leidvolle Geschichte der KlientIn berücksichtigen, akzeptieren, dass längst vergangene Erfahrungen noch immer für die KlientIn aktuell sind, das limbische System sich aus seinen Lernerfahrungen in die Bewertung des Jetzt kräftig einmischt. PsychotherapeutInnen sollten immer versuchen zu bedenken, unter welchem neuronal gesteuerten Einfluss das Bewusstsein der KlientIn steht.

    Bücher und Artikel, auf die ich mich hier beziehe:
    Fischer H R (2004) Neurobiologie und Psychotherapie - Lost in Translation? Ein kritischer Überblick zur neueren Literatur in Familiendynamik, Heft 4 Hirn – Psyche – Bewusstsein, Klett-Cotta Stuttgart, S. 363-403
    Roth G (1994) Gehirn und Wirklichkeit. Frankfurt, Suhrkamp
    Hüther G (2005) Bedienungsanleitung für ein menschliches Gehirn, Vandenhoek & Ruprecht, Göttingen
    Hüther G (2006) Wo genau passiert es? Die vergebliche Suche der Hirnforscher nach der Region im menschlichen Gehirn, in der das Bewusstsein entsteht. In: die Drei, mercurial-publications, Frankfurt/Main, S 52-60
    Ludewig K (2005) Einführung in die theoretischen Grundlagen der systemischen Therapie, Heidelberg, Carl Auer
    Joachim Hinsch

  • feministisch-systemische ArbeitsgruppeDatum05.02.2008 18:46

    Protokoll der feministisch-systemischen Arbeitsgruppe
    Vom 22. Jänner 2008
    Dabei waren: Anita, Corina, Elisabeth, Hedi, Sabine, Sabine, Verena
    Protokoll: Sabine Kirschenhofer


    ACHTUNG: nächster Termin
    am 11. März um 18:30, wie immer am IEF, Praterstr. 40
    Nächstes Mal
    steht die Diskussion zu einem Kapitel aus David Schnarchs Buch „Die Psychologie sexueller Leidenschaft“, Stuttgart, Klett Cotta, 2006 – nämlich „Zweier-Dilemmata und der normale Sadismus in der Paarbeziehung“ (S. 344-378) auf dem Programm.
    Wer den Text noch braucht, kann sich diesen in der Praterstraße abholen (habe für Anita&Michi schon 2 Exemplare kopiert) – liegen im Sekretariat in Sabine Kirschenhofers Fach. Eine Kopiervorlage liegt ebenfalls in meinem Fach (ev. für Sabine, Elisabeth od. Hedi).

    ***

    Am 22.1. stand ein Artikel von Scheinkman in der Familiendynamik 2007 zur Diskussion: „Über das Trauma der Untreue hinaus“

    Wir tauschen uns anhand von Fällen aller aus über verschiedene Zugänge/Umgangsweisen/Bewährtes in Zusammenhang mit Außenbeziehungen.
    Wir stellen fest, dass die im Scheinkman Artikel kritisierte gängige U.S.amerikanische Praxis des Vorgehens bei Außenbeziehungen (Zwang zur Aufdeckung, oberste Priorität von Transparenz/Offenlegung, Weigerung der therapeutischen Weiterarbeit wenn Therapeutin von einem/einer von geheimer Affäre erfährt) im deutschsprachigen Raum nicht unbedingt „state of the art“ ist.

    Scheinkman hält es für wichtig, die Aufdeckung einer Affäre (und anschließend die Beendigung) nicht als Ziel vorzugeben sondern zu respektieren, dass dies eine Frage der Selbstbestimmung ist; sie kombiniert hier Einzelsitzungen und Paarsitzungen.

    Wichtiger Aspekt: gesellschaftlich wurden/werden Außenbeziehungen je nach Geschlecht unterschiedlich bewertet. Für Frauen haben/hatten Außenbeziehungen meistens schwerwiegendere Konsequenzen als für Männer. Pub. Von Laumann et al. (1994): Männer lassen sich häufiger wegen Untreue scheiden als umgekehrt. Frauen müssen härtere Konsequenzen fürchten, denn Männer verzeihen seltener und neigen eher zu Rache und Gewalt.
    Auch wenn dies vielleicht in Einzelfällen ganz anders sein mag, auch wenn obige Ergebnisse etwas platt klingen, so sollte dieser soziokulturelle Hintergrund als Möglickeit im Auge behalten werden.

    Für (traditionell geprägte) Männer bedeutet das Fremdgehen der Frau z.T. eine „Entwertung“ ihres „Eigentums“. (ich hatte vor kurzem genau so einen Fall, d.h. zu sagen, diese Zeiten sind vorbei, trifft wahrscheinlich nur für bestimmte progressivere Milieus zu)

    Im Scheinkman Artikel steht auch, dass in Kulturen, die den Ehebruch tolerierten, in keinem Fall ausschließlich Frauen dieses Vorrecht hatten. Im Judentum galt, dass Frauen immer schuld sind, wenn es zu einer Außenbeziehung kommt, Männer nur im Fall eines „Eigentumsdelikts“, d.h. wenn die Affärenfrau einen anderen Mann hat bzw. diesem gehört.

    Ansonsten wird in dem Artikel auch ein Buch von Laura Kipnis (Liebe – eine Abrechnung, 2004) rezipiert: Die Autorin kritisiert, dass die U.S. amerikanische Kultur partnerschaftliche Beziehungen zum postfeministischen Ideal erhoben habe. Kipnis sieht Paartherapie als Teil einer repressiven sozialen Reglementierung zur Aufrechterhaltung des status quo. Als Hauptproblem der Paare die Erwartung, dass Partner/in sämtliche Bedürfnisse befriedigen muss.

    Eine Position, die mich immer wieder sehr beschäftigt, wobei ich in Paartherapien die repressive soziale Reglementierung weniger in bezug auf die Anpassung an postfeministische partnerschaftliche Langweilebeziehungen erlebe, sondern mehrheitlich in bezug auf leider nicht „postpatriarchale“ (ach wie schön wenn das schon wäre!) sondern klassisch komplementäre Leidensbeziehungen. Womit ich kämpfe ist die Rolle der „Zeugin“ patriarchalen Geschehens aus der Perspektive der Paartherapeutin heraus.
    Dies „macht“ u.a. bzw. immer wieder folgendes mit mir: ich erlebe mich wütend/hilflos (nicht aufgrund einer Identifikation mit z.B. der Frau sondern da ich mich in meiner Rolle als Therapeutin nicht besonders wirksam erlebe), finde manches ekelerregend, will manches gar nicht live mitbekommen. Hier spreche ich niemals (oder sagen wir selten) davon, dass irgendein böser übermächtiger Macho sich grauslich seiner Frau gegenüber verhält, sondern ich meine die Selbstverständlichkeiten einer interaktiven Bezogenheit mit enormem hierarchischem Gefälle und sehr unterschiedlichen Auswirkungen/Einschränkungen auf das jeweilige Leben … „ein Spiel das definitiv nur zu zweit geht!“ Und für mich am schwierigsten zu handhaben sind oft die Anpassungsleistungen der Frauen und ihre internalisierten patriarchalen Dogmen, mit denen sie – zum Teil ohne viel explizities, äußerliches Zutun des entsprechenden Partners – sich in die Verhältnisse einfügen.
    Es ist davon auszugehen, dass manche Männer jedoch sehr wohl Schwierigkeiten entwickeln würden, wenn ihre Frauen von diesen „Anpassungsleistungen“ Abstand nehmen würden. (Bei manchen jüngeren Paaren, in denen Frauen partnerschaftliche Verhältnisse einfordern und sich ihre Freiheiten organisieren/leben, werden bei den Partnern immer wieder Ordnungssehnsüchte im Sinne von „wieso können wirs denn nicht doch ein bisschen so wie unsere Eltern machen, das war halt schon weniger mühsam“ laut.) > das sind auf jeden Fall Erfahrungswerte aus meinen Paartherapien

    Jenseits eines feministischen Hintergrunds taucht die Fragestellung auf, was z.B. Paartherapien mit uns machen im Sinne einer Aufmerksamkeitsfokussierung auf Streitmuster, interaktive Abläufe, typische Streitthemen, Zuschreibungen, sogar Sätze die fallen & als Trigger wirken können. Was davon nehmen wir wie mit nach Hause, indem wir dann in privaten Kontexten (durch den „geschärften Blick“ alias „Tunnelblick“ von der Arbeit) sehr schnell sehr Ähnliches beobachten/wahrnehmen.


  • feministisch-systemische ArbeitsgruppeDatum12.11.2007 18:28

    Protokoll der FSAG vom 23.10. 2007


    anwesend:
    Elisabeth Klar, Sabine Klar, Verena Kuttenreiter, Michi Mühl, Hedi Wagner
    & Sabine Kirschenhofer (Protokoll).

    Corina Ahlers ist heute krank – per Telefon meldet sie Interesse an folgendem Thema an: Ausbildungsstatistiken und Geschlechterverteilung > in Fachspezifika 80/20 Studentinnen/Studenten, bei LehrtherapeutInnen: 50/50.


    Netzwerke: wir werden öffentlich wirksam!

    Angeregt durch Sabines Doppelironietext (inspiriert von A. Retzer und seinen illuminierenden Ansagen über die „Produktionsbeginnsphase“) bleiben wir dann bei einigen Zitaten hängen und beschließen, ebenfalls in die „Produktion“ zu gehen.

    Im Anschluss an unsere Diskussion wird jede zu diesen Zitaten ein paar Gedanken/Sätze formulieren und an Verena e-mailen, die diese dann in einer Art Gruppendiskussionsprozess bzw. -ergebnis zusammenfasst > In den nächsten netzwerken, die im Dezember erscheinen, wird dann das Retzer-Zitat samt Ironietext und Gruppendiskussion als Produkt aus der Werkstatt der FSAG publiziert. Das wird sozusagen unser erster öffentlicher Auftritt als Arbeitsgruppe.


    Hier nochmals die zwei Zitate fürs Arbeiten:

    „IV. Entwicklungsphasen von Paarbeziehungen“
    „5. Produktionsbeginn: Kinder, Karriere, Kapital“ …

    „Auch wenn Ähnlichkeit zwischen den Partnern – oder besser: vermutete und zugeschriebene Ähnlichkeit – mit einer höheren Zufriedenheit einhergeht, ist Ähnlichkeit nicht gleichbedeutend mit Verträglichkeit. Unähnlichkeit schließt Kompatibilität nicht aus. So sind etwa Konstellationen, in denen beide Partner hohe berufliche Karriereziele verfolgen, mit einem hohen Trennungsrisiko assoziiert; ähnliche Orientierungen können also offenbar auch zu Konflikten in praktischen Fragen des Zusammenlebens und der Lebensgestaltung führen (Reichle 1994, Rosenkranz & Rost 1998, Brandstädter%Felser 2003).
    Grundsätzlich gilt, dass Paarbeziehungen, die nicht durch die Bereitschaft einer teilweisen Einschränkung von Individualität und Freiheiten gestützt sind, auch nach empirischen Befunden nicht über die für langfristige Paarbeziehungen erforderlichen Kohäsions- und Koordinierungspotentiale verfügen. Die Bereitschaft, eigene Ziele und Ansprüche partnerschaftlichen Belangen unterzuordnen, erscheint vor diesem Hintergrund als die zentrale Ressource für die Stabilität des Beziehungssystems und seiner Widerstandsfähigkeit gegen Konflikte und Belastungen. Dies gilt besonders für die Phase der Produktion von Kindern, Karriere und Kapital.“ (S. 312)
    (Retzer, Arnold: Systemische Paartherapie, Klett-Cotta: Stuttgart, 2004)


    Die Diskussion aufgreifend sind mir folgende Punkte hängengeblieben (und was immer davon euch brauchbar erscheint, können wir für die „Gruppendiskussion“ nehmen):

    Retzer gibt vor, sich neutral zu befassen mit den Veränderungen, die Paare betreffen, wenn sie Kind/er bekommen. Doch alleine dass er etwa fordert, Individualität und Freiheit müssten eingeschränkt werden, kann nur vor dem Hintergrund gesellschaftspolitischer Umbrüche gesehen werden, wo diese Art der Einschränkung nicht mehr selbstverständlich (und in höchstem Maße in komplementärer Arbeitsteilung, Mann Haupternährer, Frau Nebenernährerin und Familienversorgerin) vom Großteil der Paare gelebt wird.

    Retzer verwendet objektivistische Sprache wie etwa eine Beweisführung unter Rückgriff auf „empirische Befunde“ …wobei die Leserin nie erfährt welche er da meint. Diese Argumentationsweise greift auf das landläufige Rekurrieren auf Stehsätze wie „es ist erwiesen dass“ zurück, die gefolgt werden von der persönlichen Meinung. Letzere wird nie als solche ausgewiesen, was einer traditionellen patriarchale Sprechweise entspricht, die sich Definitionsmacht aneignet, indem sie die eigenen Interessen/Positionen negiert und als objektiv, allgemeingültig, Wahrheit und Wissen ausgibt.

    Retzers Zitat wird interpretiert als Aufruf dahingehend, bei bewährten (?) Modellen der Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern zu bleiben. Da es – in Zeiten von Gender Mainstreaming - jedoch nicht mehr zeitgemäß ist, so was auszusprechen, wird so getan als ob das eine ganz individuelle Entscheidung eines Paars wäre. Die Conclusio, dass möglicherweise BEIDE in dieser Phase sich (karrieremäßig) einschränken müssen, wird von ihm nirgends erwähnt – eine Conclusio, zu der im übrigen andere AutorInnen (jüngere? gender-reflektiertere?) sehr wohl kommen.
    So tun als Ob es Gesellschaft und daraus resultierende „Sachzwänge“, Rahmenbedingungen, Gewohnheiten, Normen, Werte nicht gäbe, treibt eine Individualisierung voran, die Schwierigkeiten und das Scheitern ebenfalls individualisiert und somit den Leidensdruck von Paaren erhöht.

    Sprachlich überwiegen strukturkonservative gefärbte Termini wie „Produktionsbeginn“ – „Kinder, Karriere, Kapital“ … die Funktionalität des Systems im Sinne einer Firma, die gut läuft, steht im Vordergrund.
    Normative Bilder von ganz bestimmten sozialstrukturellen Milieus und deren Lebens- und Familienentwürfen werden verallgemeinert bzw. als einziges Modell in den Raum gestellt … gleichgeschlechtliche Paare, kinderlose Paare/Ehen (diese werden in selbigem Produktionsbeginnkapitel mit einem beiläufigen Satz erwähnt: diese wären mit einem höheren Trennungsrisiko verbunden), andere Familien- und Beziehungsformen existieren in Retzers Welt der „Paartherapie“ nicht bzw. kann geschlussfolgert werden, dass sie „deviant“ bleiben.


    Diskussionsthema 2:
    Manche Facetten von Weiblichkeit als Teil unseres Gewordenseins/Besonders-seins/ unserer Persönlichkeit bzw. als „Machtmittel“, um in einer ungleichen Welt zumindestens für sich ein bisschen für Ausgleich zu sorgen?

    Hier entspinnt sich eine Kontroverse:
    Schaden Frauen sich selbst (im Sinne einer partnerschaftlichen Zukunft), wenn sie auf manche Privilegien, die das Patriarchat (für manche Frauen bzw. in ganz bestimmten Kontexten) auch zu bieten hat, verzichten?

    Zum einen wird vertreten, dass wir es eh schwerer haben (ernst genommen zu werden, respektiert zu werden etc.) und dass man dann zu jedem Strohhalm greifen sollte, um nicht immer nur die Blöde zu sein.

    Zum anderen wird in den Raum gestellt, dass man sowohl der Sache (Feminismus, einer anderen Zukunft) schadet als auch sich selbst (längerfristig), wenn man mit weiblichen Mitteln „spielt“, diese „ausnutzt“ um es sich gut gehen zu lassen od. sich Vorteile zu verschaffen. Denn, der Haken an der Sache könnte sein, dass genau dieses Spielen mit „unlauteren Mitteln“ dazu verwendet wird, uns weiter festzuschreiben in traditionellen Weiblichkeitsbildern und dazu benutzt werden, uns weiterhin nicht ernst zu nehmen.

    Verena bringt als Beispiel Madonna (die Sängerin, individuell erfolgreich mit der Vermarktung als Sexsymbol) vs. die MTV-Ästhetik, wo sich die Geschlechterhierarchie sehr deutlich in Zuhälter&Prostitutierte (Frauen als sexuelle Nutzobjekte) manifestiert.

    Doing Gender … wie kleiden/stylen/geben wir uns, wann, wo, wie und wofür … inwiefern tun wir das für uns und inwiefern tun wir es mit verinnerlichten Bildern des Männern-Gefallenwollens und inwiefern sind wir überhaupt dazu in der Lage, diese Unterschiede wahrzunehmen.


    Noch was anderes:
    Sabine wird Andrea Ebbecke-Nohlen per e-mail kontaktieren und sie fragen, wie und wohin ihre feministischen Energien entfleucht sind oder ob sie diesbezüglich in den Untergrund gegangen ist > Anlass dafür war die Feststellung, dass im deutschsprachigen Raum in der systemischen Szene Gender/Feminismus so wenig Thema ist. Und was aus den wenigen Frauen wurde, die sich vor 15/20 Jahren damit beschäftigt haben. Sabine hat sich die Website von Frau E.N. angeschaut, die anderweitig durchaus produktiv und aktiv zu sein scheint.


    Nächster Termin: 4.12. um 18:30, IEF

  • feministisch-systemische ArbeitsgruppeDatum22.10.2007 17:29

    Treffen 11.9.07 (Protokoll Verena Kuttenreiter):
    sabine und ich haben einige stellen/thesen vorbereitet um über arnold
    retzer und sein konzept "liebe - partnerschaft" zu diskutieren.
    herr retzer, der von sabine ob seiner - bei offensichtlichen
    ungleichheiten - völlig neutralen sprache kritisiert wurde (so ungefähr:
    "in der produktionsphase wird es oft schwierig mit der arbeitsaufteilung"
    ... sabine: könntest du da vielleicht das zitat raussuchen und ergänzen,
    würd sich schon auszahlen, meine ich. ich kriegs leider nicht mehr hin)
    hat ja die systemtherapeutische theorie mit der einführung der binären
    unterscheidung von liebe und partnerschaft belebt.
    da das männliche geschlecht trotz bereits selbst geäußerter kritik an
    dualismen, die das dritte (und vierte und ...) ausschließen, nicht müde
    wird, diese einzuführen, lohnt sich zumindest eine debatte derselben.
    folgende kritikpunkte sind zumindest mir haften geblieben:
    erstens schleicht sich auf diese weise erneut ein liebesbegriff ein, der
    in den letzten 2 jahrhunderten vor allem auf kosten der frauen ging und
    ihnen "aus liebe" alles mögliche abverlangte. von der hausarbeit bis zum
    beischlaf taten und tun frauen (die dann übrigens "zu sehr lieben") nach
    wie vor vieles, was sie - aus einem partnerschaftlichen/gleichberechtigten
    blickwinkel vielleicht nicht tun würden.
    so tut frau aus unserer sicht gut daran, ein (männliches) aufwärmen von
    liebesmythen zu hinterfragen. wie im übrigen auch die (hauptsächlich von
    männern ventilierte) these, dass die "gleichberechtigen" beziehungen, wo
    keinerrr mehr was fordern darf und männer darauf rücksicht nehmen, was
    frauen wollen und vor allem nicht wollen, in die sexuelle öde und fadess
    schlechthin führen. weil: das stimmt ja einfach gar nicht!
    zweitens ist das ja so einfach nicht mit der trennung der begriffe, mit
    dem dualismus liebe - partnerschaft an sich: was ist denn, wenn jemand für
    sich liebe eben nicht (wie arnold retzer) mit absolutheit, irrationalität,
    ausschließlichkeit, leidenschaft, hingabe, geschenk usw. verknüpft,
    sondern mit gleichberechtigung (oder gar "gerechtigkeit"),
    partnerschaftlichkeit, ausgeglichenem geben und nehmen, mit
    dauerhaftigkeit, stabilität, sicherheit, usw.?
    will er/sie dann tatsächlich unmögliches verbinden bzw. verwechselt er/sie
    dann wirklich verschiedenes oder hätte er/sie nicht vielleicht einfach nur
    einen anderen liebesbegriff als herr retzer und eine lange, beständige
    tradition?

    wir kamen zu guter letzt zu folgendem (glaube ich) konsens: jedem
    klienten/jeder klientin ihr/sein persönlicher liebesbegriff.
    es schadet nicht, ihn zu befragen. manche von uns tun dies indem sie
    direkt fragen: "lieben sie ihre frau/ihren mann?, andere sind mit dieser
    frage zögerlicher. wozu überhaupt den begriff "liebe" einführen - er zeigt
    sich doch in beschreibungen des beziehungsalltages ...
    conclusio, wie auch immer: wir haben uns nach den vorstellungen unserer
    klientInnen und deren definitionen von liebe zu richten - retzer kann mit
    seiner analytischen unterscheidung von liebe und partnerschaft im
    hinterkopf hilfreich sein, muss es aber nicht.
    wenn ich was eurer meinung nach wichtiges vergessen hab, bitte ergänzen!
    für mich wars ein sehr erhellendes treffen. wir haben gut diskutiert,
    finde ich!

  • warum kämpft hier keiner?Datum28.06.2007 12:52
    Foren-Beitrag von Sabine Klar im Thema warum kämpft hier keiner?

    Ich möchte Ihnen ein Buch empfehlen, in dem vieles, was mir persönlich in letzter Zeit zum Thema Standardisierung, Qualitätssicherung, Evaluierung (ECDS-Punkte!) usw. in der Bildungslandschaft "aufgestoßen" ist, auf differenzierte und gleichzeitig eingängige Weise ausgesprochen ist. Verena Kuttenreiter (verena.kuttenreiter@wiso.or.at) hat dazu eine Rezension verfasst, die ich dankenswerterweise hier einfügen darf:

    Konrad Paul Liessmann
    Theorie der Unbildung. Die Irrtümer der Wissensgesellschaft

    Der Wiener Philosoph Konrad Paul Liessmann hat ein gut lesbares, durch seinen polemischen Stil und treffsichere Formulierungen unterhaltsames Buch über Bildung/Unbildung und Wissen in unserer Zeit geschrieben. Warum das auch für PsychotherapeutInnen interessant ist, wird spätestens bei seinen Ausführungen über die sogenannten ECTSPunkte (die früher oder später vermutlich auch hierzulande die Therapieausbildungen vereinheitlichen werden) deutlich.

    Eine Ausgangsthese Liessmanns ist, dass nicht die Wissensgesellschaft, wie häufig postuliert, die Industriegesellschaft ablöst, sondern wir vielmehr in einer Zeit leben, in der Wissen industrialisiert wird, damit es – modularisiert, vereinheitlicht - in die Zone der ökonomischen Verwertbarkeit transferiert werden kann. Vor dieser Folie kritisiert Liessmann pointiert die Ideologie des lebenslangen Lernens als Instrument der Anpassung sowie das Konzept des Lernen-Lernens, das keiner Idee von Bildung mehr verhaftet ist, sondern durch das Leerstellen offen gehalten werden sollen für rasch wechselnde Anforderungen der Märkte, Moden und Maschinen.

    Anhand der PISA-Studie macht Liessmann den „Ranglistenwahn" deutlich – Rankings sowie Evaluierungen, so Liessmann, fungieren dabei als wirksame Steuerungs- und Kontrollmechanismen, die verinnerlicht werden und den Phantasmen der Effizienz, der Verwertbarkeit, der Spitzenleistung und der Anpassung verpflichtet sind.

    „Was die Bildungsreformer aller Richtungen eint, ist ihr Hass auf die traditionelle Idee von Bildung. Dass Menschen ein zweckfreies, zusammenhängendes, inhaltlich an den Traditionen der großen Kulturen ausgerichtetes Wissen aufweisen könnten, das sie nicht nur befähigt, einen Charakter zu bilden, sondern ihnen auch ein Moment von Freiheit gegenüber den Diktaten des Zeitgeists gewährt, ist ihnen offenbar ein Greuel. Gebildete nämlich wären alles andere als jene reibungslos funktionierenden flexiblen, mobilen und teamfähigen Klons, die manche gerne als Resultat ihrer Bildung sähen." Immanuel Kant, so ein griffiges Beispiel, der 10 Jahre an seiner „Kritik der reinen Vernunft" schreibt und Königsberg nie verlassen hat, wäre im Universitätsbetrieb unserer Zeit nicht mehr möglich.

    Über den Begriff von Charakter ließe sich natürlich – gerade unter PsychotherapeutInnen – diskutieren. Anzurechnen ist Liessmann jedenfalls, dass sich seine Angriffe sowohl gegen Rechts als auch gegen Links richten und er es wagt, auch unpopuläre Positionen zu vertreten. Und nicht zuletzt bei der Polemik gegen Power-Point-Präsentationen („Überhaupt lässt sich bei derartigen Gelegenheiten ein generelles Missverhältnis zwischen dem technischen und medialen Aufwand und dem geistigen Gehalt des Gebotenen konstatieren") und dem Hinweis auf Scheinrealitäten, in denen schneller Nutzen in Hochglanzformat versprochen wird („Potemkinsche Dörfer, allesamt!") drängt sich so mancher Vergleich mit der Psychotherapieszene auf.

    Verena Kuttenreiter

  • FeministischesDatum27.06.2007 13:33
    Thema von Sabine Klar im Forum revolution

    Ich möchte "feministisches" im Rahmen des Bereichs "revolution" als Thema eröffnen und hoffe, dass sich hier Stellungnahmen von Menschen einfinden, die mit den anstehenden Fragen in ganz unterschiedlichen Bereichen konfrontiert sind. Gleichzeitig verweise ich auf den Unterpunkt "systemisch-feministische Arbeitsgruppe" zum Thema "systemische Psychotherapie" - dort geht es um spezifisch therapeutische Aspekte dazu.

  • feministisch-systemische ArbeitsgruppeDatum27.06.2007 13:20

    Sabine Kirschenhofer möchte eine Stellungnahme der Arbeitsgruppe dazu schreiben, dass das systemische Kaffeehaus der LASF zum Thema „Der Körper und die systemische Therapie“ zur Gänze von 4 männlichen Referenten gestaltet wird, was schon etwas merkwürdig ist. Die feministisch-systemische AG wird auf der ÖAS-Website präsent gemacht. Sabine Klar bietet an, die Protokolle unserer Arbeitsgruppe auf der Plattform des Internetforums des IAM anderen InteressentInnen zugänglich zu machen. Verena hat einen Falter-Artikel über Feminismus mitgebracht, aus dem sie Zitate vorliest und den wir diskutieren. Es geht u.a. darum, dass jüngere Frauen auf dem Erkämpften und Erreichten der Feministinnen aufbauen, dies aber nicht mehr wahrnehmen/sehen, weil sie es für selbstverständlich/ normal halten. Viele Frauen distanzieren sich von der Zuschreibung Feministin, weil sie Angst haben, als unattraktive verhärmte strenge Besserwisserinnen zu gelten und in (sexistische, patriarchale) Klischeeschablonen eingesetzt zu werden. Gleichzeitig vertreten aber genau diese Frauen durchaus feministische Positionen – sehr oft mit dem Zusatz „aber ich bin ja (eh) keine Feministin“. Wodurch der Mythos der männerfeindlichen hässlichen alten Jungfer, die ja nur deshalb Feministin geworden ist, weil sie keinen abgekriegt hat, weiterblühen kann. Verena möchte gerne die gängigen systemischen Paartherapiekonzepte (insbesondere Retzers Leitdifferenz von Liebe/Partnerschaft) kritisch diskutieren ev. als Programm fürs nächste Treffen. Wir beginnen Verenas These zu diskutieren, dass jede Paartherapie die Therapie eines Ungleichheitsverhältnisses darstellt und welche Schwierigkeiten/Besonderheiten dies aufwirft. Verena definiert Ungleichheit damit, dass sich eine/r an die Normen/Definitionsmacht des anderen anpasst – es können auch internalisierte Normen sein die knechten. Wir sprechen darüber, dass die deutschsprachige systemische Szene, welche viel an dominanten Diskursen vorgibt (Retzer, Ludewig, Clement etc.) mit herausragender Blindheit bzw. Ignoranz – das Geschlecht betreffend – glänzt. Glücklicherweise gibt es durchaus andere paartherapeutische Ansätze (Jellouschek, Gottmann – auch Männer), die wesentlich partnerschaftlichere und progressivere Ansätze und Reflexionen beinhalten und weitere Verbreitung in der Ausbildung finden sollten/könnten. Sabine Klar meint, wenn sie als Therapeutin alleine mit einem Paar arbeitet, denkt sie dass durch die Konstellation weibliche Therapeutin und Klientin und Klient bereits eine Verschiebung eines Machtungleichgewichts zugunsten der Frau stattfindet (ein Gedanke im nachhinein: Aber was bedeutet das im Umkehrschluss dahingehend, wenn ein Therapeut alleine eine Paartherapie macht??)

    Die Termine für Herbst sind: 11.9.07, 23.10.07, 4.12.07 - jeweils 18:30, Praterstr. 40

  • feministisch-systemische ArbeitsgruppeDatum27.06.2007 13:18

    … in einer kleinen runde haben wir letztes mal die idee geboren, evtl. die ein oder andere veröffentlichung (sei es in den netzwerken oder den systemen oder sonstwo) unter dem namen unserer arbeitsgruppe zu tätigen - um den schon langweiligerweise immer wieder totgesagten begriff des feminismus aufs tapet zu bringen und um zu zeigen, dass sich diesbezüglich hier bei uns (den systemikerinnen, der ÖAS, den psychotherapeutinnen, ... wie auch immer) was tut …dann haben wir des längeren über den begriff der neutralität diskutiert und anhand eines fallbeispiels die grenzen der neutralität, aber auch die eventuell auftretenden schwierigkeiten einer parteilichen haltung diskutiert … die frage war (genauer gesagt: ein angriff auf eine kollegin aus unserer gruppe von einem männlichen arbeitskollegen), ob eine feministische therapeutin für eine klientin, die sich für einen - im weitesten sinn - sie misshandelnden mann entscheidet, quasi die "richtige" therapeutin sein kann ... ein punkt, der mir haften geblieben ist, war, dass parteilichkeit im sinne eines sturen vertretens bestimmter ideologischer positionen vermutlich früher oder später wohl in therapeutische sackgassen führen wird, dass aber eine parteilichkeit, die sich daraus ableitet, dass die therapeutin (so wie es im geschilderten fallbeispiel war) ihre präferenzen für bestimmte lösungen transparent macht und gleichzeitig offen ist für die wahrnehmung der wünsche, auch ambivalenzen der klientInnen, durchaus produktiv für den therapeutischen prozess ist … kurzer einschub meinerseits: wenn ich es mir so überlege, liegt, glaube ich, in dem vorwurf, feministinnen könnten ja nicht neutral sein, eine ständige verwechslung von konstruktneutralität und personenneutralität vor und dann ist man schnell beim verdacht der männerfeindlichkeit bzw. beim verdacht, frauen, die sich für "böse" männer entscheiden sind für feministinnen "blöde" frauen (weil sie mit "bösen" männern kooperieren) - das wäre dann aber blöder feminismus und ist mitnichten das, worum es uns (auch als therapeutinnen) geht … aber eine präferenz für das konstrukt des gleichberechtigten, menschenwürdigen, gewaltfreien umgangs miteinander, die muss mir erst einmal einer wegargumentieren können. therapeutin hin oder her ... (dazu im übrigen sehr schön herta nagl-docekal, die eine feministische haltung als eine gesellschaftliche ungleichheiten kritisierende als selbstverständlich für jede demokratische haltung sieht - "feministische philosophie", Fischer Taschenbuch, Frankfurt am Main, 2000) … oder wie seht ihr das? vielleicht diskutieren wir ja nächstes mal darüber weiter ... gegen ende sind wir dann noch bei der sehr praktischen frage gelandet, ob frauen eher durch mehr kinderbetreuungsplätze im frühen alter der kinder gedient ist oder aber, frauen sich ihr recht auf daheim-bei-den-kindern-bleiben nicht nehmen lassen sollten. sollte wohl zur wahl stehen für jede frau war, denke ich, die konklusio ... so, ende meines berichtes, bis zum nächsten mal … verena

  • feministisch-systemische ArbeitsgruppeDatum27.06.2007 13:17

    Ausgehend von einem Fall (eine schwierige Mutter-Tochter-Beziehung) widmeten wir uns bei unserem Treffen am 20.3. Frauenbeziehungen (und deren patriarchal geprägten Ab- und Hintergründen) sowie dem "Aufopfern". Sehr oft beobachten wir in Therapiesitzungen Frauen, die miteinander/ gegeneinander kämpfen - vielfach bei Thematiken, die frau wundern lässt, wieso die dazugehörigen Männer (Väter, Partner etc.) und deren Un/Taten - Untätigsein außen vor gelassen werden.
    Luce Irigarays These, dass Frauenbeziehungen in einem patriarchalen System hauptsächlich von Neid und Konkurrenz geprägt sind, drängt sich auf. Eine besondere Herausforderung stellt mitunter das "Leiden" und "Sich-Aufopfern" von Frauen für andere (Kinder, Partner, zu pflegende Angehörige) dar, welches therapeutisch (aus-)gehalten werden will/soll - die Frage ist dann aber: wie? Wir diskutieren die Chancen und Grenzen konfrontativer Zugänge vs. Alternativen dazu. In der Diskussion wurde deutlicher, dass unsere Wahrnehmungen mancher Klientinnen als ohnmächtig, hilflos oder Opfer zu überdenken sind, weil darin oft mehr Kraft und Wut steckt, als wir vielleicht denken. Die Wut bzw. Aggression entsteht dann oft bei uns Therapeutinnen ob der in Hilflosigkeit und Aufopferung verharrenden/"störrischen" Klientin und dürfte als nicht-artikulierte od. offen gelebte Emotion bei den Klientinnen ebenfalls präsent sein. Es bleibt zu überlegen, was die Frauen von ihrem Lieben bis zur Aufopferung haben: Wenn wir davon ausgehen, dass diese Art zu leben in Weiblichkeit als Konzept eingeschrieben ist, dann würde gelten: je mehr Identifikation mit traditionellen weiblichen Lebensentwürfen, desto unausweichlicher das Leiden? "Ich leide also bin ich, sagte die Frau im Patriarchat"? Schließlich diskutieren wir auch die Differenz zwischen der Art und Weise, wie Frauen sich/ihre Leistungen im Gespräch oft runtermachen und deren Allmachtsempfindungen im Hintergrund, alles am Besten zu können (z.B. in bezug auf Kind/Haushalt - ohne mich geht gar nichts!) und die patriarchale Teilung der öffentlichen/privaten Sphäre - in der Öffentlichkeit das Schweigen und in den eigenen vier Wänden die Dominanz der Frauen. Es wird gemutmaßt, ob die Selbstdarstellung/-wahrnehmung von Männern genau gegengleich funktioniert: Gockelgehabe in der Öffentlichkeit und
    kleiner Bub zu Hause.

  • feministisch-systemische ArbeitsgruppeDatum27.06.2007 13:15
    Thema von Sabine Klar im Forum systemische psychother...

    Die feministisch-systemische Arbeitsgruppe trifft sich regelmäßig (Treffen immer Dienstag von 18:30-20:30; Termine sind zu erfahren bei: verena.kuttenreiter@wiso.or.at). Weitere TeilnehmerInnen sind erwünscht, Stellungnahmen zu den Berichten über die einzelnen Treffen aber auch im Rahmen dieses Internet-Forums möglich (Anm. Sabine Klar: das IAM fördert sozusagen über Eröffnung dieses thematischen Raums die Themen und Inhalte der feministisch-systemischen Arbeitsgruppe, die sich unabhängig vom IAM konstituiert hat)

    Thematische Schwerpunkte der Arbeitsgruppe:
    Texte/Artikel diskutieren: Ausgewählte Artikel, die hinsichtlich feministisch-systemischer Fragestellungen spannend erscheinen, werden von der Gruppe gelesen und bei AG-Treffen gemeinsam diskutiert; Intervision: Möglichkeit von Fallbesprechungen und des fachlich-kollegialen Austauschs; Diskussionsforum, wo wir uns mit den Implikationen bzw. der praktischen Umsetzung einer feministischen Haltung in der systemischen Therapie beschäftigen möchten; Ziel: Erarbeitung von „Werkzeugen“ via intervisorischen Fallanalysen sowie theoretische Überlegungen; als eine Idee geistert auch ein feministisch-systemisches Symposion herum, wobei wir das erst in einer späteren Phase weiterdenken werden. Mit einfachem Mehrheitsbeschluss entscheiden wir, dass die FS-AG auch für männliche Teilnehmer/Mitarbeiter offen ist ...

  • warum kämpft hier keiner?Datum13.06.2007 19:58
    Foren-Beitrag von Sabine Klar im Thema warum kämpft hier keiner?

    Was mich ärgert:
    Ein Mensch, der sich wegen einer Depression in Krankenstand befindet, muss bereit sein, Antidepressiva zu nehmen – sonst wird der Krankenstand nicht verlängert (Motto: entweder es ist ja gar nicht so schlimm oder es ist so schlimm, dann muss man Pillen schlucken). Eine andere Möglichkeit scheint es aus Sicht der Krankenkassen nicht zu geben. Ein Mensch, der sich aufgrund seines psychischen Zustands außerstande sieht, jeden Job möglichst flexibel anzunehmen bzw. Jobvermittlungskurse durchzustehen, gelangt in eine Rehabilitationsmaßnahme, die darin besteht, dass er 1 Woche lang ununterbrochen in seinen Fähigkeiten getestet und geprüft wird. Man gibt ihm Diktate und mathematische Aufgaben vor und setzt ihn unter Leistungsdruck, indem man ihm androht, im Fall des Scheiterns einen Rechtschreib- und Mathematikkurs absolvieren zu müssen. Schlimmstenfalls drohen dem armen Menschen, der sich zusätzlich zu seiner miesen existenziellen Lage und seinen diversen Zuständen jetzt auch noch mit den Schreckensbildern seiner schulischen Misserfolgserfahrungen befassen muss, sechs Wochen Prüfungs- und Trainingsmarathon (und das, obwohl er an einer Ausbildung Interesse hätte, die man ihm aber nicht genehmigt). Er darf nichts ablehnen – sonst gilt er als arbeitsunwillig und wird in die Sozialhilfe abgeschoben. Dasselbe geschieht, wenn er den Beurteilern, die quotenmäßig zunehmend unter Druck gesetzt werden, allzu unfähig erscheint. Es ist erstaunlich, welches soziale Geschick und welche sprachlichen Fähigkeiten ein solcher Mensch braucht, um sich seine Lebenskraft und Würde in diesem Umfeld zu erhalten. Leider kann er nicht gehen, denn er ist angewiesen auf das wenige Geld, das man ihm quasi gnadenhalber zahlt, wenn er sich allen Maßnahmen und Zumutungen unterwirft. Dazu gehört inzwischen bereits, alle Zelte abzubrechen und in eine andere Stadt zu ziehen.

  • warum kämpft hier keiner?Datum20.03.2007 13:46
    Foren-Beitrag von Sabine Klar im Thema warum kämpft hier keiner?

    Es gibt wohl in diesem systemischen Kontext wenige Sätze, die mich so ärgern, wie dieser: "Das ist "nur" ein Konstrukt" (ersetzbar durch "nur" eine Geschichte). Wie können wir - vor dem Hintergrund der Erkenntnis, dass wir mittels unserer in Sprache gefassten Vorstellungen gemeinsam mit anderen "Welt" erschaffen - noch so (nach)lässig das Wort "nur" verwenden? Das was wir erleben, denken, sprechen wirkt - v.a. dann wenn wir uns in (zumindest partiell) definitionsmächtigen Positionen befinden (und die Position eines Therapeuten oder einer Ausbildungsleiterin ist eine solche). Deshalb halte ich in diesem Zusammenhang keinerlei Beliebigkeit oder Nachlässigkeit für angebracht. Und ich fände es wirklich gut, sich einmal ausführlicher mit dem Begriff der "Wahrheit" zu befassen, der im systemischen Umfeld wirklich sträflich banal verstanden und verwendet wird.

  • warum kämpft hier keiner?Datum12.03.2007 17:21
    Foren-Beitrag von Sabine Klar im Thema warum kämpft hier keiner?

    Wenn ich z.B. in Ausbildungen bemerke, wie leicht sich Menschen Gegebenheiten fügen, gegen die sie sich doch wehren könnten ... dann will ich ihnen als Lehrtherapeutin die Unterdrückung wie die Fügsamkeit sichtbar und die entsprechenden Möglichkeiten des Widerstandes wahrnehmbar machen. Gleichzeitig bin ich mir bewusst, dass ich sie damit in einen Kampf schicken würde, an dem ich - obwohl ich aufgrund meiner Position mit viel besseren Ressourcen versehen bin - selbst gescheitert bin. Deshalb halte ich mich im letzten Moment zurück - und bin mir nicht sicher: Wäre es die Sache überhaupt Wert gewesen? Oder nehme ich mit diesem Rückzug teil an einem Unterdrückungsszenario im Kleinen?

  • die heilige Kuh ArbeitDatum06.03.2007 17:26
    Thema von Sabine Klar im Forum systemische psychother...

    Die heilige Kuh Arbeit (von Verena Kuttenreiter für die Netzwerke der ÖAS geschrieben)

    Systemische TherapeutInnen sind, auf Grund ihrer Referenz auf den Konstruktivismus zur Selbstreflexion verpflichtet. Viele blinde Flecken werden beleuchtet, „Wahrheiten" sind da, um umgestoßen zu werden - nur eines scheint bemerkenswert unantastbar: Die Annahme, dass viel Arbeiten gut ist! Nun ist es natürlich nicht so, dass man nicht wüsste, dass das Workaholic-Dasein nicht das gesündeste ist, aber das geheime perverse Genießen (nach Slavoj Zizek) scheint doch gebunden zu sein an Erzählungen, wie voll die Privatpraxis sei, wie viele Stunden man um wie viel Geld arbeite, wo man welchen Workshop halte, welches neue Projekt man ins Leben rufe bzw. wo man seinen Senf dazugegeben habe. Bemäntelt wird die Praxis des Vielarbeitens in erster Linie mit Unabkömmlichkeit und Pflicht zur Hilfeleistung (bei den KlientInnen) oder in zweiter Linie mit eigenem Interesse. Man identifiziert sich eben so mit dem Beruf, dass es mehr ist, nämlich Berufung! Da geht sich daneben kaum was anderes aus.

    Hallooo, Psychotherapie ist doch auch nur Erwerbsarbeit!! Und als Normierungs- und Besänftigungsveranstaltung (ja, trotz oder genau wegen vermeintlicher „Kreativität" und „Unangepasstheit" von uns TherapeutInnen) gut eingepasst ins kapitalistische Wirtschaftssystem. Dieses verkauft uns Berufe als Berufung und lässt uns begeistert uns selbst vergessen – ich frag mich schon, wer uns das einmal dankt ... da mir niemand einfällt, danke auch.

    Verena Kuttenreiter

    Zur „heiligen Kuh Arbeit“ (von Sabine Klar als Antwort darauf)

    Ich verstehe die Intention deines Beitrags als Appell gegen die Leistungsideologie – und kann ihm insofern zustimmen. Andererseits reizt er mich auch zum Widerspruch – und da ich als frisch gebackenes Redaktionsmitglied hier den Mund voll nehmen soll: bitte sehr – hier ist die Reaktion. Gleich zu Beginn: der Konstruktivismus ist es sicher nicht, der mich so ausdauernd zur Selbstreflexion verpflichtet hat. Im Gegenteil – er verleitet aus meiner Sicht eher dazu, sich vieles leicht zu machen unter dem Titel „es lässt sich ja doch nichts wirklich verstehen – es ist ja alles nur ein Konstrukt“ (im narrativen Kontext ersetzbar durch „nur eine Geschichte“). Ich erinnere mich daran, dass eines der positiven Kriterien therapeutischer Arbeit in der Zeit meiner Ausbildung darin bestand, sparsam und ja nicht zu viel zu arbeiten, um die Klienten in ihrer Eigenaktivität nicht allzu sehr zu stören und mit fremden Fragen bzw. Gedanken zu belästigen. Mit der Selbstreflexion ist es also unter SystemikerInnen nicht allzu gut bestellt – obwohl wir sie uns werbewirksam auf die Fahne schreiben.

    Zur Annahme, dass viel Arbeiten gut sei: In deiner Argumentation kommt das Motiv des „Geld verdienen Müssens“ nicht vor, obwohl du Psychotherapie als bloße Erwerbsarbeit bezeichnest. Also ich glaube, dass die meisten von uns unter anderem deshalb so viel arbeiten, weil wir uns sonst unser Leben und unsere Praxisräume (inkl. Steuern, Abgaben usw.) nicht leisten könnten und sich v.a. die hohen Investitionen in die Ausbildung nicht lohnen würden. Interessanter Weise sprechen fast nur Studierende von der Mühe des Geld Heranschaffens. Bei den angeblich „etablierten“ fertigen Psychotherapeutinnen hat dieses Thema wenig Raum – ja ich habe fast den Eindruck, es sei anrüchig zuzugeben, dass man kein Geld hat und deshalb viel arbeiten muss. Es spielt als Motiv im kollegialen Diskurs kaum eine Rolle. Geredet wird über Erfolg – dass die Praxis voll ist, dass die Seminarteilnehmer begeistert waren, dass man einen „Wichtigen“ bei einem Kongress im Ausland kennen gelernt hat, dass man für dies oder jenes angefragt wurde usw. usf.. Misserfolge scheinen tabu zu sein – vielleicht ist es ein Zeichen, als TherapeutIn nicht so „gut“ zu sein, wenn man mit dem eigenen existenziellen Auskommen zu ringen hat? Jedenfalls beobachte ich regelmäßig, dass KollegInnen mit ausgeprägterem Imponiergehabe dann auch fachliche Kompetenzen zugesprochen werden, die damit eigentlich gar nichts zu tun haben.

    Ich denke, dass das Gerede über die viele Arbeit den „Geruch des Misserfolgs“ gar nicht erst aufkommen lassen will. Man hat Zeit und Geld in eine Ausbildung gesteckt, die Familie hat das alles mitgetragen und Hoffnungen entwickelt, dass es nun besser werde – nun sitzt man da, wartet auf Anrufe von KlientInnen, versucht sich da und dort zu bewerben oder den Job zu behalten. Wenn KlientInnen auftauchen, erscheint ihnen das zu Bezahlende viel zu sein – man kommt ihnen vielleicht entgegen und vergleicht sich intern mit dem Wert anderer Dienstleister (Friseure, Masseure usw. nimmt man halt nicht so oft in Anspruch). Klienten leisten sich eine Psychotherapie entweder weil sie müssen (Krankheit, Leiden) – dann soll es aber auch helfen, die eigene Lage besser zu ertragen. Oder sie leisten sich uns im Sinn eines Luxus (Wellness- und Persönlichkeitsentwicklungs-Alternative) – dann soll es sich wenigstens gut anfühlen. Aus dem zu stopfenden finanziellen Loch der TherapeutInnen und der Not bzw. den Ansprüchen der KlientInnen ergibt sich jedenfalls eine gewisse Spannung. Wir brauchen Klienten – und deshalb auch Überweiser, die uns welche schicken. Und Überweiser müssen den „Geruch des Erfolges“ an uns wahrnehmen, um ausreichend Vertrauen in unser Können zu haben. Im Dienst des Gerüchts, wir seien „gut“ betreiben wir eine Menge Imponiergehabe: Wir sind engagiert (das heißt, es geht uns nicht bloß ums Geld - darüber sind wir erhaben). Wir sind wichtig (das heißt, alle wollen nur uns - wir sind unabkömmlich). Wir sind v.a. methodisch interessiert (das gibt uns den Geruch der Professionalität). Viel arbeiten um wenig Geld gilt als eigenartig – es muss schon durch erfolgreiche Projekte gerechtfertigt sein. Ich vertrete davon ausgehend die These, dass das Gerede über die „viele Arbeit“ nichts damit zu tun hat, wie viel gearbeitet wird. Ganz sicher hat es nichts mit Altruismus zu tun, damit sich selbst im Engagement für andere zu vergessen – im Gegenteil: mittels dieses Geredes erinnert man sich und andere an sich selbst und die eigene Wichtigkeit. Und der Dank, der laut deiner Aussage ausbleiben wird - ich denke, wir haben unseren Lohn bereits bekommen, wenn uns andere ob unseres viel Arbeitens für toll halten. Welche sonstigen Dienstleister bekommen denn schon Dank? Ich finde, dass wir von unseren KlientInnen jedenfalls mehr zurückbekommen als das Gros von ihnen.

    Meiner Meinung nach sollten wir alle weniger arbeiten und weniger Imponiergehabe betreiben – und uns stattdessen ganz simpel mit der Qualität unserer konkreten Therapien befassen. Doch da bin ich sicher wieder im Sinn meiner berufsethischen Codierung missionarisch unterwegs. Die vom Kapitalismus geprägte Umgebung produziert am laufenden Band Neid-Dynamiken und Konkurrenzgefühle untereinander. Es wird etwas zur Mangelware gemacht (z.B. Klienten, Erfolg, Information, Arbeit), sodass der Eindruck entsteht, wenn es der andere hat, kann ich es nur mehr unter Anstrengung bekommen bzw. erwerben. Dahinter steckt natürlich wieder einmal die Angst – in diesem Fall vor dem „Geruch des Misserfolgs“. Es geht dann nicht mehr um die Arbeit, die Klienten oder das damit konkret verdiente Geld, sondern um den Vergleich mit dem anderen, möglicherweise Erfolgreicheren. Das alles wird natürlich selten zugegeben – es würde doch der eigenen werbewirksamen Selbstdarstellung im kollegialen Umfeld widersprechen.

    Ich glaube nicht, dass dieses Muster zu unterbrechen ist, indem man weniger arbeitet oder Psychotherapie als „bloße Erwerbsarbeit“ sieht. Angesichts diverser globaler Probleme wird heutzutage mehr und mehr klar, dass das kapitalistische Gesellschaftssystem seine Grenzen erreicht hat – bzw. in seiner Wirkung durch staatliche und über-staatliche Regelungen begrenzt werden muss. Bestimmte Werte (im Sozial-, Umwelt-, Gesundheitsbereich z.B.) müssen vor der dem Kapitalismus inhärenten Dynamik geschützt werden, alles zur vermarktbaren, Mehrwert produzierenden Mangelware verkommen zu lassen. Psychotherapie ist von Gesetz wegen ein „freier Heilberuf“ – das gilt in dieser gesellschaftlichen Umgebung an sich schon als etwas Ungewöhnliches. Wir beschäftigen uns in einem Bereich mit „Heilen“, der schwer zugänglich und wenig kontrollierbar ist und außerdem kann uns inhaltlich niemand dabei dreinreden. Im meiner Diktion handelt es sich um Arbeit in einem „Zwischenraum“ (hier verstanden als nicht festgelegter, sozusagen bedeutungs-schwangerer Raum), in dem neue Werte geboren werden, in dem sich das Denken um anderes konzentrieren und auf andere Weise bewegen kann als üblich. Dieser Bereich wird uns von der Gesellschaft eingeräumt und unterliegt deshalb natürlich auch aktuellen gesellschaftlichen Einflüssen. Er birgt aber als Potential auch eine Freiheit, die wir in unserem Sinn und im Sinn unserer Klienten weiter entwickeln könnten, wenn wir uns selbst frei halten und frei machen.

    Davon ausgehend denke ich, dass wir um manche Bereiche Grenzen ziehen müssen – um den Zwischenraum der Psychotherapie z.B., aber auch um den Innenraum der menschlichen Person. Wie man inzwischen wahrscheinlich zur Genüge weiß, hege ich ein tiefes Misstrauen gegenüber den diversen postmodern geprägten Identitätsvorstellungen, auf die SystemikerInnen da und dort zurückgreifen (relationale Identität; Auflösung der Person im Gerede usw.), weil diese eine Art freie Marktwirtschaft der Ideen über das Selbst in den Raum stellen und – metaphorisch gesprochen - so tun als wäre die Person ein Konzern. Philosophisch gesehen ist das vielleicht interessant, politisch betrachtet halte ich es aber für gefährlich. Ich denke, dass es der Zwischenraum der Psychotherapie möglich machen könnte, im Sinn einer personinternen „staatlichen“ Regelung eigene Werte zu finden und zu festigen um sich gegenüber den allgegenwärtigen Ökonomisierungsdynamiken eine gewisse Gestaltungsfreiheit zu bewahren. Dazu ist es sicher nicht nötig, allzu viel zu arbeiten. Dazu ist es schon gar nicht nötig, sich andauernd als fleißig oder erfolgreich zu beschreiben. Was dazu nötig ist, wird wohl jeder von uns selbst herausfinden müssen.



  • Thema von Sabine Klar im Forum systemische psychother...

    Lieber Tom!

    Deine Auseinandersetzung mit meinen Fragen hat mich zugegebener Weise beeindruckt. Ich fühlte mich in Bezug auf den blinden Fleck meiner eigenen „moralischen Codierungen“ ertappt und verfiel eine Zeitlang in nachdenkliches, lernbereites Schweigen. Nachdem ich mir deine Antworten noch ein paar Mal schriftlich durchlesen konnte, komme ich nun aber doch nicht umhin, das eine oder andere dazu anzumerken.

    Zum „blinden Fleck“ – du meintest, es brauche nur eine Veränderung der Beobachterperspektive, um ihn beobachten zu können. Demgemäß wären „blinde Flecke“ kein Drama. (S. 2) Das stimmt – gilt aber nur dann, wenn man darauf Wert legt, sie zu kennen, sich ihrer also bewusst werden bzw. sich im Hinblick auf seine Beobachterperspektiven beweglich halten will. Meiner Erfahrung nach scheint das schwierig zu sein, wenn man sich mit einer eingenommenen (z.B. methodischen oder ethischen) Positionierung identifiziert und persönliche Vorteile damit verknüpft. Es gibt Reaktionen auf meine Fragen, die mich methodisch überzeugen – und gleichzeitig misstrauisch machen, weil sie so selbstverständlich wirken und den Eindruck erwecken, es sei kein Problem, sich im Kontext von Interessenslagen, die auf beiden Seiten wirken, ganz auf das zu konzentrieren, was den KlientInnen jeweils gut tut. Ich habe bei einigen Rückmeldungen den Eindruck, dass es meinen KollegInnen leicht erscheint, sich gegenüber den diversen Beeinflussungen frei zu halten. Mir persönlich fällt es nicht so leicht und deshalb halte ich das Bemühen um eine halbwegs freie und bewegliche Wahrnehmungs- und Urteilsfähigkeit für eine nie endende Aufgabe.

    Die „Milde“ (S. 2 unten), die mein endgültiger Text gegenüber vorangehenden Varianten aufweist, könnte auch als Ergebnis interner Abgleichungs- und Nivellierungsprozesse i.R. Kooperation mit meinen KollegInnen verstanden werden. Ist „Milde“ in diesem Zusammenhang eigentlich positiv zu bewerten? Und auf der Basis welcher Kriterien stellst du meinen hie und da durchbrechenden Kampfgeist als anachronistische „Emphase“ in Frage? Sollte ich als Vortragende meinen Zuhörern so begegnen, als wären sie Klienten in einer systemischen Psychotherapie? Ich persönlich bin übrigens weniger über die „sozialen Entwicklungen“ (S. 3 oben) wütend als darüber, wie wir SystemikerInnen uns auf subtile Weise daran beteiligen, ohne es wahrhaben zu wollen.

    Was du über die Vermarktung der Lebenswelten in der neoliberalistischen Postmoderne und über den drohenden individuellen Konkurs als Markteilnehmer schreibst (S. 5), spricht mir natürlich aus der Seele. Ich denke allerdings, dass der individuelle Konkurs der Marktteilnehmer auch konkrete Unfreiheit bewirkt, wenn nicht etwas anderes für sie wichtiger werden kann, als ihr Wert auf dem jeweiligen Markt. Damit werbe ich noch nicht für den Ersatz durch bestimmte andere Werte – das wäre dann vielleicht wirklich eine „moralische Codierung“ des Problems. Ich werbe für ein Bewusstmachen der impliziten Wertsetzungen und dafür, sich seinen Geist ihnen gegenüber nach Möglichkeit frei zu halten und frei zu machen.

    Zu Luhmann: Wenn im Verständnis der funktionalen Differenzierung das Funktionssystem der Psychotherapie die Aufgabe übernimmt, die ganze Person im Blick zu behalten (S.8) – ist das dann als eine Form des Widerstands zu verstehen oder als „Reservat“, das im Dienst der Funktionalität anderer Bereiche mit ihrer Zustimmung aufrechterhalten wird? Ich denke, dass die Neigung zur Funktionalisierung auch in diesen Bereich Eingang gefunden hat – und behaupte, dass v.a. PsychotherapeutInnen, die sich mit einer bestimmten Methode, Strategie oder mit bestimmten Umgangsformen besonders identifizieren, auch nicht mehr die ganze Person sehen können, sondern nur das, was sie für das Handeln im Rahmen ihrer jeweiligen Präferenz bzw. Spezialisierung brauchen können. Die Delegation des Menschlichen an einen Sonderraum, der selbst funktionaler Teil einer Anpassungsmaschinerie an Funktionales sein soll, birgt aus meiner Sicht eine immanente Verstrickungs- und Manipulationsgefahr. Hilfen die solche funktional verstandenen Systeme anbieten, werden dann wohl Integrationshilfen sein – also letztlich Unterstützungsformen, die den Funktionssystemen nützen. Mein Problem besteht hier u.a. darin, dass die Theorie der funktionalen Differenzierung die Idee produzieren kann, die gesellschaftlichen Vorgänge könnten nicht mehr anders gesehen werden als es diese Theorie beschreibt. Dann gilt alles, was in diesem Zusammenhang auftaucht, als Ergebnis funktionaler Differenzierung und selbst ein Bereich, der anderen Prämissen folgt, wie die Psychotherapie, bloß als weitere funktionale Spezialisierung. Dazu ein Beispiel aus deinem Text: „Als systemische Psychotherapeuten müssen wir uns also Gedanken machen, welche Werte unsere gesellschaftliche Funktion besonders sinnhaft zum Ausdruck bringen.“ (S. 11) Beißt sich da nicht die Katze in den Schwanz? Wieso müssen wir unsere Werte an unserer gesellschaftlichen Funktion orientieren? Ich habe den Eindruck, dass in diesem Zusammenhang manche globalen Theorien verschlingenden Charakter bekommen können. Man versteht bestimmte Zusammenhänge auf eine bestimmte Weise und trägt damit dazu bei, dass sie sich weiterhin auf diese Weise zeigen und verhalten können.

    Mit dem Anspruch des „Ambivalenzmanagements“ kann ich wenig anfangen, wenn es bei Ambivalenz bloß um ein „unentscheidbares Oszillieren zwischen zwei gleichermaßen plausiblen Entscheidungsmöglichkeiten“ (S. 6) gehen soll. Selbst wenn „in der Beobachtung zwei oder mehr gegensätzliche, sich widersprechende Blickpunkte plausibel erscheinen“ (s.o.), kann ich mich hier gemäß eigener (auch ethischer) Präferenzen zumindest für eine gewisse Zeit begründet und auf vernünftige Weise positionieren und daraus Handlungs- und Gestaltungsfähigkeit in meinem jeweiligen sozialen Kontext gewinnen. Dazu muss ich in meiner Auseinandersetzung und Begründung aber wahrscheinlich etwas langsamer werden als es das Wechselspiel diverser von der Umgebung angeregter Ambivalenzbewegungen von mir will. Ich könnte mich mit diversen Themen und Fragen beispielsweise auf dialektische Weise auseinandersetzen, die doch eine etwas gründlichere Beschäftigung mit der jeweils gewählten Position verlangt, bevor sie zu einer ebenso gründlichen Beschäftigung mit der anderen Position gelangt.

    Außerdem denke ich, dass der von mir vertretene Widerstandsgedanke zu sehr i.S. einer 68er-Tradition als „Rebellion“ gegen die „Gesellschaft“ verstanden wurde. Es geht mir sicher nicht darum, „stellvertretend für meine Klienten einen Kampf aufzunehmen und sie damit meines Reflexionsangebotes zu berauben“ (S. 12). Im Gegenteil – ich möchte durch diese Auseinandersetzung dazu beitragen, dass sich dieses Reflexionsangebot von impliziten Beeinflussungen befreit bzw. sich diese zumindest von Mal zu Mal bewusst macht. „Widerstand“ kann im Zusammenhang mit dieser Frage gar keinen deutlich erkennbaren Adressaten haben, weil es jeweils immer etwas anderes ist, das KlientInnen und PsychotherapeutInnen in ihrer Freiheit einengt, zu urteilen und zu handeln (und in diesem Sinn Wirklichkeit zu konstruieren). Es geht um das „gemeinhin Geglaubte“, das „selbstverständlich Vorausgesetzte“. In diesem Verständnis ist jeder von uns – PsychotherapeutInnen, KlientInnen, Überweiser usw. – gleichzeitig Täter und Opfer. Wir erleiden die Unterdrückung und Einengung, sind ein Teil von ihr und ziehen Nutzen daraus. Das ist es ja – wir sind alle Agenten, Verwalter und Dulder der Machtverhältnisse. Und natürlich ist das „befreite“ genauso wie das „unterdrückte“ Individuum eine soziale Konstruktion (S. 4 unten) – doch die Idee eines Menschen, der sich befreien kann, ermöglicht als hoffnungsvolle soziale Konstruktion ein spezifisch anderes darauf bezogenes Denken und Handeln.

    Zu deinem Hauptkritikpunkt: „das Problem gesellschaftlicher Normierungen wird vorschnell als moralisches Problem codiert“. Ich unterliege diesbezüglich sicher dem einen oder anderen „blinden Fleck“ und ertappe mich oft dabei, dass ich mein Interesse mit diversen „Richtigkeitsvorstellungen“ beschäftige, wenn es auch um ganz anderes gehen könnte. Dennoch halte ich bei längerem Nachdenken deine Beobachtung für eine Fehldiagnose. Ich codiere die genannten Probleme weniger im moralischen als im berufsethischen Sinn und denke, dass es sich dabei um einen feinen, aber doch wesentlichen Unterschied handelt. Es geht mir darum, sich der Macht der eigenen Positionierungen und Interessenslagen in diesem Kontext bewusst zu werden. Meine Intention ist es, die eigene Beteiligung an den diversen Machtspielen zu bemerken und sich damit als SystemikerInnen ernst zu nehmen, die wissen, dass sie Wirklichkeit gemeinsam mit anderen erschaffen. Ich fordere mich und meine KollegInnen dazu auf, ernst zu nehmen, was wir gemäß unserem eigenen konzeptionellen Verständnis nach sind – mitgestaltendes Gegenüber für menschliche Lebewesen, die ihre Welten gestalten. In dem Anliegen, diese Gestaltungsmöglichkeit als potentiell befreiende Option wirklich zu erfassen, kann ich noch keine moralische Codierung i.S. einer Identifikation mit bestimmten vorgegebenen Werten und Normen erkennen – eher eine Anregung zur Infragestellung und Überprüfung eigener impliziter Wertsetzungen und ethischer Positionen. Ich fordere nicht dazu auf, eine bestimmte Moral zu teilen, sondern kritisiere die von mir wahrgenommene implizite Moral vieler SystemikerInnen. Übrigens denke ich, dass der von dir bevorzugte Bezug auf das soziale Konstrukt der „ganzen Person“ im Kontext der funktionalen Differenzierung die Identifikation mit einem ganz bestimmten Wert voraussetzt. Deine positive Bewertung dieses sozialen Konstrukts halte ich - so sehr ich dir persönlich auch zustimmen möchte - demgemäß für „moralischer“ als mein Plädoyer für ein Bewusstmachen diverser impliziter Wertsetzungen.

    Mit dem Abschlusszitat von F. Foerster kann ich leider nur wenig anfangen – ich halte gerade das, was er damit zu präferieren scheint, für potentiell gefährlich: Sprache und Handeln „auf einem unterschwelligen Fluss der Ethik schwimmen zu lassen“ (S. 12). Ich schaue den eigenen und fremden Werte-Präferenzen lieber ins Gesicht und nehme sie in den Mund, als dass ich mich von ihnen unterschwellig treiben lasse.

  • Was ist da in was - welches Leben in welchem? Oder bezieht sich "das falsche" hier gar nicht auf den Begriff "Leben"? (eine vielleicht dämliche Frage - aber ich will besser verstehen, was hier gesagt wird)Und was folgt daraus? Soll man ausgehend davon das Bemühen um ein richtiges Leben bleiben lassen? Das würde mich - sicher illegitimerweise - an den Umgang der Systemiker mit der Einsicht der Perspektivität jeder Erkenntnis erinnern. Gleich darauf gab es in der Suche nach Wahrheit oder Verstehen keine Kriterien mehr - alles verkam zur "bloßen" Geschichte oder wurde zu notwendigem Missverstehen auf der Basis des Nicht-Wissens. Ich weiß dass Adorno das nicht so meinen kann, fühle mich aber außerstande, es zu erklären. Es muss sich um den Beginn einer Auseinandersetzung und nicht um das Ende einer solchen handeln, oder?

  • warum kämpft hier keiner?Datum11.02.2007 15:49
    Foren-Beitrag von Sabine Klar im Thema warum kämpft hier keiner?

    Es ist interessant, dass die Einsicht, auf bewaffneten Kampf um der eigenen Unbehelligtheit willen verzichtet zu haben, beantwortet wird mit der Beteuerung, dass man doch im Sinn dieser Unbehelligtheit sowieso sehr viel zu kämpfen habe. Themenverfehlung würde ich sagen - im einen Fall geht es um Kampf im Dienst einer Sache, in der "wir alle" viel zu verlieren haben. Im anderen Fall geht es um den Kampf um uns selbst, unsere eigenen privaten Freiräume. Dafür lohnt es sich wahrscheinlich nicht, in die Schlacht und die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen - so schlecht geht es uns ja gerade nicht. Aber zufrieden zu sein mit der "Lage", in der wir uns alle befinden - nur weil oder damit es uns dann persönlich besser geht? Da und dort ein bisschen zu zerren an den kleinen Fesselchen, um uns widerständig zu fühlen? Das hat etwas Lächerliches, das ich dennoch ständig betreibe - leider. Vor anderem schrecke ich zurück, denn ich bin feige. Und rede mich natürlich damit heraus, dass es eh keinen identifizierbaren Gegner gibt, dass ich sowieso keine Macht habe, dass es sich gar nicht auszahlt. Dann konzentriere ich mich auf meine kleine Welt, in der sich noch etwas gewinnen lässt - auch im Dienst verschiedener Menschen und Sachen, um die es dann geht. Und finde, dass sich dort zumindest eine Perspektive auf "geistige Freiheit" ergibt. Dafür kämpfe und darauf hoffe ich dann. Und bin solange recht froh bis ich wieder einmal über den Rand dieser Welt blicke - es braucht oft gar nicht viel Information. Dann weiß ich wieder, dass meine kleine widerständige Perspektive auf geistige Freiheit Teil einer Gefängniszelle mit Vorgarten ist, die mir diese Umgebung zukommen lässt, solange ich mich angemessen verhalte. Eigentlich müsste ich dankbar dafür sein, denn draußen verrecken die anderen. Ja und dann schalte ich wieder ab, weil mich die Unzufriedenheit in einen Zustand versetzt, der meinem kleinen Leben nicht gut bekommt. Und schaue weg - eben eine zufriedene, manchmal etwas schrullige oder widerspenstige, aber doch ganz brauchbare Haussklavin, die die Türen schließt, wenn es draußen kalt wird.

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